«Wir wollen keine Rassisten und keine Leute, die ihre Macht missbrauchen»

Zürcher Unterländer. «Black Lives Matter» Der St. Galler SP-Polizeidirektor Fredy Fässler freut sich trotz Versammlungsverbot über die Demonstrationen gegen Rassismus. Dieser werde in der Schweiz immer noch zu wenig thematisiert.

Interview.

Sie sind Polizeidirektor des Kantons St. Gallen und Mitglied der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus. Wie erleben Sie die «Black Lives Matter»-Demos, die am Wochenende erneut Tausende auf die Strassen lockten?

Ich glaube, das ist ein Aufruf, dass wir uns mit unserem Rassismus auseinandersetzen.

Von welchem Rassismus sprechen Sie?

Meist handelt es sich um unbewusste Reaktionen und Reflexe, wie ich sie auch bei mir selbst beobachte. Wir müssen uns das Unbewusste bewusst machen. Und wir müssen kritisch und offen darüber diskutieren, wie viel Rassismus in unserer Gesellschaft vorhanden ist und wie wir besser miteinander umgehen können.

Ist Rassismus ein Problem in der Schweiz?

Es wäre wohl falsch, zu behaupten, die Schweiz habe ein flächendeckendes Problem damit. Ich glaube nicht, dass wir ein Volk von Rassisten sind. Aber Rassismus gibt es situativ auch in der Schweiz. Er wird von Rechtsparteien auch aktiv gepflegt, um daraus politisches Kapital zu schlagen.

Sie sprechen von der SVP?

Ja, aber auch von anderen Parteien mit offen fremdenfeindlichen Positionen. Natürlich muss man differenzieren: Fremdenfeindlichkeit und Rassismus sind nicht identisch, es gibt aber viel Gemeinsames. Was mir auch auffällt: Lange dachten wir, Rassismus sei bei uns in der Schweiz kein wirkliches Thema, weil wir keine aktive koloniale Vergangenheit haben und keine Sklavenhalterei hatten. Inzwischen wissen wir, dass es auch Schweizer Unternehmen gab, die ihr Geld mit Ausbeutung und Sklaverei verdient haben.

Der Streit um den Zürcher Industriepionier Alfred Escher, der von Sklaverei profitiert hat, zeigt allerdings, wie delikat das Thema ist.

Ja. Ich hoffe sehr, dass es da nicht nur eine Pingpong-Debatte gibt, wo einfach gut und böse definiert werden. Das Ziel muss sein, dass wir das Unbewusste bewusst machen. Wenn es rassistische Reflexe gibt, bringt es nichts, sie einfach zu verbieten. Man muss darüber reden und sich bewusst machen, was für ein Menschenbild man hat. Das ist sehr anspruchsvoll.

Wurde der Rassismus in der Schweiz früher totgeschwiegen?

Nein. Es gab immer Diskussionen. Das Thema war auf der politischen Agenda einfach nicht sehr weit oben. Rassismus wird oft auch bagatellisiert und ins Lächerliche gezogen. Die «Mohrenkopf»-Diskussion ist ein gutes Beispiel dafür.

Inwiefern?

Ich bezweifle, dass die Migros die «Mohrenköpfe» aus dem Regal genommen hat, weil ihr bewusst wurde, dass das ein problematisches Produkt ist. Man hat wohl einfach versucht, vor dem Hintergrund der «Black Lives Matter»-Proteste einen Reputationsschaden zu verhindern. Auf der anderen Seite erzielt der Produzent der «Mohrenköpfe» offenbar mehr Umsatz, seit diese Debatte begonnen hat. Das heisst, es gibt Leute, die finden, sie lassen sich den «Mohrenkopf» nicht nehmen. Das ist doch sehr skurril!

Warum?

Man tut so, als sei es ein Kulturgut, ein Produkt zu verspeisen, das «Mohrenkopf» heisst statt Schoko-Kopf oder sonst irgendwie. Offensichtlich macht es speziell Spass, wenn man einen «Mohrenkopf» essen kann. Ich persönlich finde es völlig daneben, dass man darüber noch lange debattieren muss, ob sich das gehört oder nicht. Aber offensichtlich ist das alles viel komplizierter und komplexer. Um das aber auch noch zu sagen: Die «Mohrenkopf»-Frage ist für mich nicht die allerwichtigste. Wenn die «Mohrenköpfe» aus den Regalen verschwinden, haben wir nicht wahnsinnig viel gewonnen.

Wie erklären Sie sich die grosse Mobilisierung für die «Black Lives Matter»-Demonstrationen?

Es gibt viele Gründe, an diesen Demos teilzunehmen. Man will sich solidarisch zeigen mit den Schwarzen Menschen in den USA, mit George Floyd. Es gibt wohl auch Leute, die finden, dass die Schweizer Polizei ähnliche Probleme hat wie jene in den USA. Aber hier bin ich anderer Meinung.

Warum?

Weil wir viel investieren, um unsere Polizisten für das Thema Rassismus zu sensibilisieren. In der Polizeiausbildung sind Menschenrechte, Ethik und die Problematik von Racial Profiling wichtige Elemente. Zudem unterziehen wir Polizeiaspiranten einem Assessment. Wir versuchen, jene Leute herauszufiltern, die wir nicht bei uns im Dienst wollen. Wir wollen keine Rassisten, wir wollen keine Gewaltbereiten, wir wollen keine Leute, die ihre Macht missbrauchen.

Dennoch werden derzeit – teils sehr pauschale – Rassismusvorwürfe an die Polizei gerichtet. Wie kommt das im Korps an?

Das ist für die Polizistinnen und Polizisten sicher ein Problem. Sie machen einen wichtigen, harten, gefährlichen und anforderungsreichen Job. Und sie reagieren sicher – und zu Recht –, wenn man ihnen unterstellt, sie seien Rassisten. Wie verbreitet solche Vorwürfe aktuell sind, kann ich allerdings nicht sagen. Unser Polizeikommandant hat mir jedenfalls noch nicht berichtet, dass es da ein Problem gibt. Wobei wir das Phänomen dieser Demos auch erst seit zehn Tagen kennen.

Wegen der Corona-Pandemie sind Demos mit über 300 Teilnehmern eigentlich nicht zulässig. Wie bewerten Sie das?

Der Staat hat in den letzten Monaten die Versammlungsfreiheit, ein zentrales Grundrecht, ausser Kraft gesetzt. Das war nötig und das wurde auch akzeptiert. Aber jetzt werden die Leute sich langsam bewusst, was das für ein massiver Eingriff war. Und da sich die epidemiologische Situation entspannt, beginnen die Leute wieder, ihre Grundrechte einzufordern. Ich finde das hocherfreulich.

Als vor einigen Wochen Corona-Skeptiker auf die Strasse gingen, gab es viele kritische Stimmen. Wird da mit unterschiedlichen Ellen gemessen?

Von mir sicher nicht. Wir müssen uns schon fragen, ob es richtig ist, dass die Grundrechte weiterhin in diesem Masse eingeschränkt sind. In anderen Bereichen gab es schon deutliche Lockerungen. Insofern hoffe ich, dass auch die Grundrechte bald wieder jene Bedeutung erhalten, die ihnen entspricht.