Wie sprechen wir über Rassismus, wenn es keine «Rassen» gibt?

Megafon. Der Begriff «Rasse» ist ein unsäglicher Begriff. Es gibt biologisch keine menschlichen Rassen, trotzdem ist «Rasse» sozial wirksam: Menschen, die beispielsweise als Schwarz gelesen werden, erleben Rassismus aufgrund der zugeschriebenen «Rasse». Für den antirassistischen Kampf sei es deswegen unerlässlich, über den Begriff «Rasse» zu reden, meint der Philosoph Daniel James.

Die rassistischen Polizeimorde in den USA im Sommer 2020 haben auch in Europa die Diskussion zu Rassismus angekurbelt. Auch die Schweiz fängt zögerlich an, sich mit ihrer rassistischen Vergangenheit und Gegenwart auseinanderzusetzen. «Rassismus» bezeichnet entweder eine soziale Struktur oder die sie stützende Ideologie, in der Menschen aufgrund von Merkmalen, die als Hinweis auf ihre geografische Herkunft aufgefasst werden, eine untergeordnete Stellung zukommt. Dieses rassistische Denken begründet sich in der Annahme, dass sich verschiedene «Rassen» aufgrund ihrer biologischen oder auch kulturellen Eigenschaften unterscheiden lassen, und dass eine dieser «Rassen» der anderen überlegen ist. Diese Denkweise ist wissenschaftlich überholt – es gibt keine biologischen «rassenspezifische» Unterschiede zwischen Menschen. Aber obwohl es keine «Rassen» bei Menschen gibt, ist diese Kategorisierung immer noch wirksam; so wie es wohl auch keine Hexen gab, trotzdem wurden TINFA (1)-Personen als Hexen verfolgt. Weil wir in einer Gesellschaft leben, die Menschen aufgrund der zugeschriebenen «Rasse» in mehr- oder minderwertig einteilt, müssen wir ebenfalls über den Begriff der «Rasse» reden, denn Anti-Rassismus ist auch immer ein Kampf um Begriffe. Deswegen haben wir uns mit Daniel James über den Begriff «Rasse» unterhalten. Daniel James lehrt derzeit Philosophie an der Freien Universität Berlin und leitet das partizipative Forschungsvorhaben ‹«Rasse»: Zur Aushandlung eines belasteten deutschen Ausdrucks›.

m*: Daniel, du befasst dich mit dem «Rasse»-Begriff. Ihn zu verwenden, ist problematisch – man verbindet ihn z.B. mit den NS-Verbrechen oder mit den Gräueln der Kolonialzeit, die von den Europäer*innen auch aufgrund ihrer «rassischen Überlegenheit» gerechtfertigt wurden. Im Deutschen ist der Begriff also weitgehend tabu. Dem gegenüber wird der Ausdruck «race» im englischsprachigen Raum verwendet. Kannst du ausführen, wie es zu diesem unterschiedlichen Sprachgebrauch kam?
Daniel: Sowohl im europäischen als auch im US-amerikanischen Kontext gibt es Geschichte rassistischer Unterdrückung, die sehr eng mit dem Begriff «Rasse» beziehungsweise «race» verbunden ist. Jedoch ist es der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung gelungen, den Begriff «race» wiederanzueignen. In einem Vortragi sprach der Schwarze Philosoph W.E.B. Du Bois 1897 vor der «American Negro Academy» – eine Organisation, die sich für die Verbesserung des Lebens von Schwarzen Menschen in den USA einsetzte. Du Bois kam als erstes auf das Wort «race» zu sprechen und meinte: «Schwarze Amerikaner sprechen nur ungern über «race», weil dieses Wort so eng verknüpft ist mit Annahmen, die über ihre natürlichen Fähigkeiten und über ihren politischen, geistigen und moralischen Status gemacht wurden – Annahmen, die sie ablehnen.» Du Bois führt dann weiter aus, dass es trotzdem sinnvoll ist, sich diesen Begriff anzueignen und für den antirassistischen Kampf zu verwenden. Im Kontext der schwarzen Bürgerrechtsbewegung hat diese Wiederaneignung stattgefunden. Deswegen würde ich sagen, dass der Unterschied zwischen dem Gebrauch von «Race» und «Rasse» weniger in der Geschichte des Rassismus liegt, als vielmehr im Kampf gegen den Rassismus.

m*: Der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung ist es also gelungen, den «race»-Begriff wiederanzueignen, im deutschen Sprachraum ist dies nicht geschehen. Im Deutschen ist sehr unangenehm und befremdlich, über «Rasse» zu sprechen. Man könnte auch sagen: Das ist ja gar kein Problem, denn eigentlich müssen wir gar nicht über «Rassen» reden, weil es keine «Rassen» gibt; wir sind ja alle gleich. Oder?
Daniel: (lacht) Es ist verlockend, eine farbenblinde oder «colorblind-Position» einzunehmen. Eine solche Position erschwert es aber, über Rassismus zu reden. Selbst wenn wir unter «Rasse» einen biologischen Begriff verstehen, der sich auf nichts in der Welt bezieht, so werden Menschen dennoch auf Grundlage dieses Begriffs rassifiziert. Diese Rassifizierung hat handfeste Auswirkungen auf ihr Leben. Wenn wir etwa unter Rassismus so etwas wie Diskriminierung aufgrund der vermeintlichen Rasse oder aufgrund der Rassifizierung , ist es unklar, wie wir über Rassismus reden können, ohne zugleich über die Unterteilungen zwischen Menschen zu reden, die historisch anhand des Begriffs der «Rasse» vorgenommen wurden und noch heute nachwirken. Diese Unterteilungen sind zwar menschengemacht – das macht sie aber nicht weniger real. Wenn wir diese menschengemachten Unterteilungen und deren Auswirkungen nicht thematisieren wollen, weil sie historisch mit dem «Rasse»-Begriff assoziiert sind, dann nimmt eine solche farbenblinde Haltung repressive Züge an. Denn sie produziert eine Menge Unwissenheit über Rassismus, die wiederum dessen Bekämpfung erschwert. Das Unbehagen, das Menschen gegenüber dem «Rasse»-Begriff verspüren, ist zwar verständlich, aber auch ein Hindernis. Aus diesem Grund finde ich es erstmal produktiv, über diesen Begriff zu reden. Dabei sollten wir erstmal mit diesem Unbehagen anfangen, ihm auf den Grund gehen, um uns dann aber zu fragen, was uns verloren geht, wenn wir über gar keine Begriffe verfügen, die uns erlauben, über Diskriminierung, Benachteiligung oder gar Unterdrückung zu sprechen, die historisch mit der Unterteilung in «Rasse» assoziiert ist. Das heisst nicht, dass wir diesen Ausdruck wieder verwenden sollten. Vielleicht sollten wir ihn aber ersetzen durch so etwas wie Rassifizierung, um erkenntlich zu machen, dass diese Unterteilung menschengemacht ist. Mit diesem begrifflichen Werkzeug können wir uns dann auch fragen, auf welcher Grundlage Menschen verschiedentlich behandelt werden.

m*: Du meinst, dass etwas verloren geht, wenn wir nicht über «Rasse» reden. Da lässt sich vielleicht ein Beispiel anführen: In den USA werden viele «race»-spezifische Daten gesammelt. Personen welcher «race» schaffen es an die Uni, oder eben nicht? Welche «race» ist vermehrt in der Gefängnispopulation? So kann auch struktureller Rassismus aufgedeckt werden. In der Schweiz oder in Deutschland werden solche Daten nicht gesammelt, stattdessen wird häufig die Kategorie «Menschen mit Migrationshintergrund» verwendet. Wieso findest du das problematisch?
Daniel: Die Kategorie «mit Migrationshintergrund» ist vor allem eine Frage der Staatsbürgerschaft, respektive der Staatsbürgerschaft der Eltern bei Geburt. Mein Neffe beispielsweise hat die gleiche Hautfarbe wie ich, aber er hat, anders als ich, zwei Eltern, die mit deutscher Staatsbürgerschaft geboren wurden. Wir würden sicher ähnliche Erfahrungen mit Rassismus machen, aber da er die Definition des Migrationshintergrundes nicht erfüllt, würden seine Erfahrungen statistisch nicht erhoben. So wie meinem Neffen geht es vielen schwarzen Menschen und Angehörigen bestimmter rassifizierter Gruppen. Diese Kategorie macht somit bestimmte Formen der rassistischen Diskriminierung unsichtbar, weil Rassifizierung und Einwanderungsstatus oder Staatsbürgerschaft nicht in eins fallen. So wird eine bestimmte Art der Unwissenheit produziert.

m*: In den letzten Jahren wurde nach einer Alternative zu diesem Begriff der «Rasse» gesucht. Einige Personen oder Kollektive übernehmen den englischen Begriff «race» – das wird auch gemacht bei «gender» und «sex», diese Begriffe werden häufig unübersetzt aus dem Englischen übernommen. Was hälfst du von dieser Alternative?
Daniel: Das habe ich selber auch oft gemacht, mittlerweile bin ich etwas skeptisch – nur weil wir das Wort austauschen, heisst das noch nicht, dass wir anders über das fragliche Phänomen denken. Es gibt einen sogenannten Fremdspracheneffekt: Bestimmte Dinge klingen für uns anders und fühlen sich anders an, wenn wir sie aus einer anderen Sprache übernehmen. In diesem Fall hat das englische Wort «race» nicht den hässlichen Beiklang seines deutschen Gegenstücks. Aber es ist keine ausgemachte Sache, dass wir, nur weil wir ein anderes Wort verwenden, deswegen schon anders über das Phänomen denken; dass damit bezeichnet werden soll, dass wir etwa die Unterteilung zwischen weißen und nicht-weißen Menschen als eine gesellschaftliche statt biologische Frage betrachten. Eine solche Änderung in unserem Denken erfordert Arbeit.

m*: Viele europäische Länder haben das Wort «Rasse» in ihrer Gesetzgebung durch «Ethnie» ersetzt. Was hältst du davon?
Daniel: Da bin ich ganz skeptisch! In Deutschland kam vor ein paar Jahren ein kontroverses Buch des damaligen SPD-Politikers Thilo Sarazin namens «Deutschland schafft sich ab» heraus. Im Großen und Ganzen hatte er einen eugenischen Ausblick auf Fragen der Einwanderung. Übles Zeug! In der ursprünglichen Fassung des Buches stand passenderweise überall «Rasse». Der Herausgeber des Buches meinte zu Sarazin «Hey, alles gut was du da schreibst, aber kannst du nicht lieber «Ethnie» statt «Rasse» schreiben?». Das Wort wurde geändert, aber ansonsten nichts – das rassistische Denken blieb genau gleich. Mein Verdacht ist, dass der Begriff der Ethnie oft ein schöngefärbter Stellvertreterausdruck ist, der dennoch auf eine rassifizierte Weise verwendet wird. Das macht ihn aus meiner Sicht besonders perfide: Es wird immer noch gleich rassistisch gedacht, wir verwenden für dieses Denken nur Ausdrücke, die weniger hässlich klingen. Selbst Leute, die sehr weit rechts stehen, reden dementsprechend ungern von «Rasse» – wohl, weil ihnen klar ist, wie ihre Rede wahrgenommen würde. Dann wird das Wort durch Ethnie ersetzt, aber es ist klar, dass sie dasselbe damit meinen.

m*: Du meinst, dass es in solchen Situationen sinnvoll sein kann, den «Rasse»-Begriff weiterzuverwenden?
Daniel: Ja, genau in diesen Kontexten, in denen man den Eindruck hat, dass Leute auf beschönigende Weise Stellvertreterbegriffe verwenden, finde ich es gut, Leute daran zu erinnern, was sie eigentlich meinen: Dass sie etwas meinen, was sie ungern sagen wollen, nämlich «Rasse». Das hat einen störenden Effekt. Es kann sinnvoll sein, von «Rasse» zu reden, oder von «Rassedenken» – sozusagen als Anklage. Der hässliche Klang ist hier also gerade der Punkt! Es ist aber wichtig, den Begriff nicht beiläufig zu verwendet und eine gewisse Distanz dazu zu wahren, durch Anführungszeichen beispielsweise. Ich würde ungern sehen, dass Leute allzu entspannt werden mit der Rede von «Rasse». Wie vorhin schon angedeutet, neige ich inzwischen der Position zu, dass man den Begriff in den meisten Zusammenhängen ersetzen sollte durch den der «rassifizierten Gruppe» – dann, wenn wir eine bestimmte Weise über menschliche Verschiedenheit zu denken, aber in all ihrer Schädlichkeit kenntlich machen wollen, dann kann es sinnvoll sein, das hässliche R-Wort anzuführen.

m*: Dein Begriff der Wahl wäre «rassifizierte Gruppe». Ist das nicht ein allzu akademischer Begriff?
Daniel: Ja, das ist sicherlich ein Problem. Deswegen sollte es nicht eine Lösung für alle Zusammenhänge geben. Im sozialwissenschaftlichen Kontext ist es sicherlich in Ordnung und teils auch schon geläufig, von rassifizierten Gruppen zu sprechen. Dann müssen wir schauen, wie wir in der Öffentlichkeit darüber reden. Man muss Sachen ausprobieren, schauen, was wie funktioniert, aber die Gefahr, dass dies eine neue Wortprägung ist, die elitär bleibt, ist auf alle Fälle da. Was am Ende aber verfängt, lässt sich ohnehin nicht gewissermaßen vom Katheder an der Uni verordnen. Wie wir schon am Beispiel der USA sehen, ist das letztlich eine Sache sozialer Kämpfe – von W.E.B. Du Bois bis hin zu Black Lives Matter.

(1) TINFA steht für Transpersonen, Interpersonen, Nonbinärepersonen, Frauen und Agenderpersonen.