«Vielen waren die Rassismus-Diskussionen schlicht zu oberflächlich»

Der Bund. Jahreswechsel mit Mona-Lisa Kole. Die Seeländer Aktivistin erhofft sich nach einem harzigen 2022 frischen Wind in den Debatten um Rassismus und Feminismus. 

Vielleicht waren es die absurdesten Fragen des Jahres 2022: Darf ich denn jetzt überhaupt noch Pasta essen? Und was ist mit Yoga?

Die Diskussion über kulturelle Aneignung hat dieses Jahr eine breite Öffentlichkeit erreicht, wegen Dreadlocks und Winnetou. Beide, die Frisur und Karl Mays Jugendbuchheld, standen einst für das Interesse am Fremden, zumindest für hiesige Bleichgesichter. Nun sollten sie plötzlich ihre Unschuld verloren haben. Das hat für manche ihr Weltbild gehörig durchgeschüttelt.

Nur: In der immensen Öffentlichkeit, die das Thema plötzlich erhielt, war die wichtigste Gruppe Menschen fast nicht zu hören. Jene, die direkt von Rassismus betroffen sind, sie waren rar in den Medien. Es war schwierig, Schwarze Menschen dazu zu befragen. Viele wollten nicht mitmachen. «Vielen von uns war die Diskussion schlicht zu oberflächlich», sagt Mona-Lisa Kole.

Die 30-jährige Seeländerin hat uns zum Gespräch ins Café Révolution im Berner Progr geladen. Der Raum, der mehr wie ein Wohnzimmer aussieht als ein Café, wurde von und für Menschen geschaffen, die Rassismus und Sexismus erleben. Dazu gehören der weisse Fotograf und der weisse Journalist sicher nicht, in der Regel wären wir hier nicht willkommen. Heute für dieses Interview allerdings schon.

Alles hängt zusammen

Rassismus, Feminismus, Queerness: Die gesellschaftspolitischen Themen, die das vergangene Jahr dominiert haben, sind auch die Themen von Mona-Lisa Kole. Sie studiert Global Governance, hat als Aktivistin Vernetzungsarbeit zwischen verschiedenen Gruppen geleistet und wirft dabei einen Fokus auf Intersektionalität – also die Analyse der verschränkten Wirkung von Mehrfachdiskriminierung, etwa von nicht-weissen Frauen. «Die Probleme hängen so sehr miteinander zusammen, dass es oft nicht möglich ist, sie auseinanderzuhalten.»

Im August hat sie ihre neue Stelle bei der städtischen Fachstelle für Migrations- und Rassismusfragen angetreten. Seit sie für die Stadt Bern arbeitet, konzentriert sie sich daneben auf wenige Herzensprojekte: auf eine «postmigrantische Late-Night-Show» etwa – oder das Café Révolution, das sie mitbegründet hat.

Sie kennt den Vorwurf gegen solche «Safer Spaces», die einem Teil der Gesellschaft vorbehalten sind, zur Genüge: «Ihr werdet ausgegrenzt, und jetzt macht ihr es selber.» Für sie und ihre Mitstreitenden ist es aber ein Rückzugsort für historisch marginalisierte Menschen. «Hier muss man niemandem erklären, dass es Rassismus tatsächlich gibt. Hier kann man freier diskutieren.» Für sie ist klar: Andere haben ebenfalls exklusive Räume. Ein Männer-Fussballgrüppchen muss das aber nicht als «Safer Space» anschreiben, weil es selbstverständlich ist.

Die «Black Lives Matter»-Bewegung ist seit 2020, seit dem Mord des US-Amerikaners Georges Floyd in einer Polizeikontrolle, in den USA wieder ein dominierendes Thema, und sie hat dazu geführt, dass auch in Europa Rassismus wieder breit diskutiert wird. Für Direktbetroffene ist es ein zweischneidiges Schwert: Einerseits kommt eine Sache auf den Tisch, bei der vieles im Argen liegt, noch immer. «Andererseits ist der Rückfall auf die ganz grundlegenden Themen – etwa die Frage, ob es denn überhaupt Rassismusprobleme gebe – sehr anstrengend.»

Denn wer sich wie Kole und ihre Mitstreitenden intensiv mit dem Thema auseinandersetzt, ist an einem anderen Punkt, sucht Lösungen und den gesellschaftlichen Fortschritt zur Überwindung von historischen Ungerechtigkeiten. «Dass einem dann von irgendwem die rassistischen Erfahrungen abgesprochen werden, ist verletzend», sagt Mona-Lisa Kole. Für sie ist dieses Absprechen von Kompetenz eines der Hauptprobleme im komplexen Feld der Diskriminierungen. Und die Komplexität überfordert. «Die kulturelle Aneignung ist gewissermassen das Modul 3.4. im Rassismus-Lehrgang, dabei haben wir noch nicht einmal Stufe 1 geschafft.»

Austausch auf Augenhöhe

Viele Menschen hätten auch klare Erwartungen in diesem für sie neuen Feld. Sie möchten Handlungsanweisungen, sie wollen wissen, was nun erlaubt und was verboten gehöre. Darum gehe es aber nicht. «Es geht um einen kulturellen Austausch auf Augenhöhe. Um Respekt und um ein Interesse an den Dingen, die man konsumiert. Wenn man weiss, dass hinter dem Kopfschmuck der indigenen nordamerikanischen Bevölkerung mehr als Dekoration steckt – und wenn man sich über den Genozid im Zusammenhang mit der amerikanischen Kolonialisierung informiert: Dann hat man einen anderen Blick auf ‹Winnetou›.»

Sie hat Verständnis dafür, dass sich Menschen mit Rassismuserfahrung gut überlegen, ob sie sich öffentlich zu Rassismus äussern. Wer sich exponiert, stellt sich in einen harten Gegenwind und muss mit beleidigenden Nachrichten rechnen. «Der persönliche Nutzen ist also klein», sagt Mona-Lisa Kole. Sie als Aktivistin will aber Auskunft geben. Viel wichtiger ist ihr aber, dass direktbetroffene Menschen sich in ihrem Handeln nicht einschränken lassen. «Die Schweiz ist eine postmigrantische Gesellschaft. Wir sind längst da, wir haben Kinder und bauen Dinge auf.» Menschen sollen in Aktion treten. «Es ist wichtig, dass man nicht immer wartet, bis alle dabei sind.» Als Beispiel nennt sie die Ablehnung der Einführung eines dritten Geschlechts im Pass: Vorwärts machen kann man trotzdem.

Breiter Seeländer Dialekt

Was Mona-Lisa Kole sagt, sagt sie glasklar – und in einem breiten Seeländer Dialekt. Dabei sind ihre Muttersprachen Französisch und Lingála. Als sie zwei Jahre alt war, floh ihre Mutter mit ihr und ihrem jüngeren Bruder aus dem Kongo in die Schweiz. «In Orpund waren wir damals die einzige Familie mit Schwarzen Kindern.» Ihre Mutter sei sehr auf die Umgangsformen bedacht gewesen, auf die Art und Weise, wie die Kinder auftreten.

«Ich bin erst in der Schweiz Schwarz geworden», habe ihre Mutter einmal gesagt. Anders wahrgenommen zu werden, prägt einen. «Es ist ein grosser Unterschied, ob einem klargemacht wird: ‹Dir steht die Welt offen› oder ‹bitte störe nicht›.»

Als Teenager reagierte Mona-Lisa Kole mit Überassimilierung: Sich anpassen bedeutet, weniger aufzufallen. «Mein Berndeutsch war noch breiter», sagt sie und lacht. Ihr gewinnendes Wesen hat ihr viele Türen geöffnet. Sie ist aber ihrer eigenen Strategie gegenüber auch kritisch. «Es muss auch möglich sein, ‹hässig› auf die rassistischen Erfahrungen zu reagieren.» Lächeln schafft keine Probleme aus der Welt, zumindest nicht die grossen. In ihrem Fall schafft es Zugänge – und hilft im besten Fall zum Verständnis. Zusammen mit ihrer Ausbildung und ihren vielen Engagements macht ihre umgängliche Art Kole prädestiniert für ihren neuen Job, in der sie viel Vermittlungsarbeit leistet.

Struktureller Rassismus benennen

Kole ist aber nicht nur ‹hässig› über die Dinge, die sich zu langsam verbessern. Sie ist durchaus zuversichtlich, dass die Gesellschaft in Bewegung ist. «Letztes Jahr hat auch gezeigt, dass viele Leute die Dringlichkeit und Ungeduld spüren.» Positiv sei etwa, dass man Rassismus nicht mehr nur als individuelles Problem wahrnimmt, sondern dass auch seine strukturelle Prägung zum Thema wird. Die städtische Aktionswoche gegen Rassismus, die Kole dieses Jahr verantworten wird, rücken den strukturellen Rassismus bereits zum dritten Mal in den Fokus.

Struktureller Rassismus bedeutet auch, dass wir mit Vorurteilen aufwachsen und das Diskriminierende somit in uns haben. «Dies anzuerkennen, ist ein wichtiger Schritt», sagt Mona-Lisa Kole.

Sie nennt ein Beispiel, in der ihr ihre kleine Schwester die Augen geöffnet hat – in einem anderen Feld. «Meine Schwester war bei der Tagesmutter, und ich ging sie ab und zu abholen. Ein Kind hatte keinen Vorderarm. Ich habe ihr stets geholfen, weil ich es gut meinte. Implizit heisst das aber, dass ich anderen Kindern mehr zugetraut habe. Meine dreijährige Schwester hat mir dann gesagt: ‹Du musst ihr nicht helfen, du kannst sie fragen.›» Sie habe realisiert, dass auch sie Behindertenfeindlichkeit in sich trage. «Bei Diskriminierungen geht es nämlich nicht um die Absicht, sondern um die Wirkung auf Direktbetroffene. Heute stresst es mich, wenn Räume nicht zugänglich sind für Menschen mit Behinderung.»

Wenn es nach ihr ginge, sollte rassistische, queerfeindliche oder sexistische Diskriminierung genauso auch jene stressen, die nicht davon betroffen sind. Weil nicht die direktbetroffenen Menschen ein Problem haben, sondern die Gesellschaft.


Schwarz mit grossem S

Auf Anregung von Mona-Lisa Kole schreiben wir das Adjektiv «Schwarz» in diesem Artikel mit grossem S, eine Schreibweise, die in der Rassismus-Debatte immer geläufiger wird. Die Idee dahinter: «Schwarz» ist nicht die Bezeichnung der Hautfarbe (die ja nicht wirklich schwarz ist), sondern ein soziales Konstrukt, das die lange Geschichte der Diskriminierung widerspiegelt. (mfe)


Drei Fragen zum neuen Jahr

Welchen Tag im Jahr 2023 haben Sie im Kalender dick angestrichen?

Ich muss drei nennen: Am 14. Januar findet im Progr Bern die nächste Late-Night-Show mit Fatima Moumouni und Uğur Gültekin statt. Dann die Aktionswoche gegen Rassismus der Stadt Bern ab 18. März. Und der feministische Streik am 14. Juni wird wieder ganz gross.

Was nehmen Sie sich auf keinen Fall vor?

Aufgeben kommt nicht infrage.

Was lassen wir besser im Jahr 2022 zurück?

Das geht an die Medien: Oberflächliche, sensationalistische Beiträge über komplexe Themen. Mehr Raum für Tiefe!