Polizeischutz für Kinderlesung von Drag Queens in Zürich 

Tages-Anzeiger. Nach dem Gender-Tag in Stäfa wird nun die «Drag Story Time» von rechts torpediert. Mitlanciert wird der Protest von einem Verschwörungstheoretiker mit Nähe zur deutschen Reichsbürgerszene. 

Eine Woche nachdem in Stäfa ein Gender-Tag aus Sicherheitsgründen abgesagt werden musste, wird online erneut zum Widerstand gegen eine Veranstaltung aufgerufen. «Bezüglich Gender-Tag hats ja auch geklappt», schreibt ein User in einem beliebten Forum auf der Social-Media-Plattform Telegram. «Wo bleibt der Shitstorm?»

Diesmal trifft es die Vorlesestunde «Drag Story Time» in der Pestalozzi-Bibliothek in Oerlikon. Am kommenden Samstag sollen dort Drag Queens für Kinder Geschichten vorlesen. Die Veranstaltung beschreibt die Nievergelt-Buchhandlung, die zu den Mitveranstaltern des Anlasses zählt, als ein «Fest der Freude». «Wir lesen, tanzen, singen und verkleiden uns, um spielerisch die Vielfalt in der Gesellschaft (…) feiern zu können», schreibt die Buchhandlung auf Instagram.

Drag ist eine Kunstform, bei der Personen Kleider und Make-up tragen, mit denen sie auf spielerische und teils karikierende Weise die Identität des anderen Geschlechts betonen. Drag-Veranstaltungen wurden in vergangener Zeit in mehreren Ländern von konservativer und rechtsextremer Seite verbal angegriffen. In Wien musste im April eine Lesung von einem massiven Polizeiaufgebot begleitet werden. In München gab es rund um eine Lesung im Mai hitzige Diskussionen. In den USA, woher die Diskussion stammt, sind Drag-Lesungen schon eine Weile unter Beschuss. Dies geht einher mit einer zunehmenden Diskriminierung von queeren Personen weltweit. Die Schweiz verzeichnete im vergangenen Jahr mit 134 Angriffen und Diskriminierungen gegen LGBTQ-Menschen so viele Angriffe wie noch nie. (dsa)

Organisatorin ist die Pädagogin Brandy Butler. Die meisten der seit vier Jahren durchgeführten rund 25 «Drag Story Times» in Zürich waren ausverkauft, sagt Butler auf Anfrage. Die Lesestunden sollen Kindern laut ihr die Möglichkeit bieten, verschiedene Geschlechteridentitäten und Rollenvorbilder zu sehen und zu verstehen. Damit würden die Kinder bei ihrer Meinungsbildung unterstützt.

Doch vergangenen Herbst stand die «Drag Story Time» zum ersten Mal im Fokus von Neonazis, die den Vorlesenachmittag mit Fackeln und Transparenten störten. Dem Protest vorausgegangen war ein kritischer Artikel in der «Weltwoche».

Neu ist beim Anlass am kommenden Samstag, dass Exponenten aus Corona-kritischen, verschwörungstheoretischen und Reichsbürger-Kreisen zu einer «Mahnwache» in Oerlikon aufrufen. In zahlreichen Foren mit insgesamt mehreren Zehntausend Followern wird seit vergangenem Sonntag in zahlreichen Posts zum Widerstand aufgerufen.

Dies mit Unterstützung von Andreas Glarner, der nach seiner Attacke in den sozialen Medien auf den Schulanlass in Stäfa nun am Dienstag bereits auch schon einen Protest gegen die Veranstaltung in der Pestalozzi-Bibliothek gepostet hat. Brisant daran: Glarner zitierte dafür eine News-Plattform, die auch Verschwörungstheorien zum Ukraine-Krieg oder zur Corona-Impfung verbreitet.

Beim Gender-Tag in Stäfa führte die Online-Hetzkampagne dazu, dass die Sozialschulleiterin Drohungen erhielt und die Veranstaltung aus Sicherheitsbedenken abgesagt werden musste. Mit den Exponenten dieser Kampagne rechnete die Gemeinde Stäfa in ihrer Mitteilung besonders ab.

Felix Hüppi, der Direktor der Pestalozzi-Bibliothek, hat bis am Dienstagmorgen rund zwei Dutzend teils gehässige Mails erhalten. Aufgrund des Aufruhrs, der derzeit online gemacht wird, seien die Veranstalter mit der Zürcher Stadtpolizei in Kontakt getreten und hätten das Sicherheitsdispositiv erhöht, sagt Hüppi. Neben der Polizei wird auch ein privater Sicherheitsdienst die Vorlesestunde begleiten. «Im Gespräch äusserte die Polizei, dass in diesen Kreisen online oft mehr Wind gemacht wird, als dann in der Realität sichtbar wird», sagt Hüppi. Und fügt an: «Aber nur schon dass wir bei einer Kinderveranstaltung in der Bibliothek mit physischer Gewalt rechnen müssen, erschreckt mich.»

«Verheerende» Social-Media-Posts

In gewissen Mails, die bei der Pestalozzi-Bibliothek eingetroffen sind, werden den Veranstaltern krude Vorwürfe gemacht; etwa, dass sie Teil einer von einer globalen Elite gesteuerten «Transagenda» seien. Einer der Organisatoren des Zürcher Widerstands mit mehr als 10’000 Followern auf Telegram schreibt, dass die «Drag Story Time» «satanistisch» sei, andere behaupten, dass sie Pädophilie Vorschub leiste. Die gleichen Argumente, die nun wegen des Anlasses am Samstag fallen, sind auch bei der QAnon-Verschwörung verbreitet. Eine Elite aus Wirtschaft und Politik soll Kinder gefangen halten, um deren Blut zu trinken.

Obwohl diese Hetzer etwa gegen Schulanlässe oder Lesungen zu Gender-Themen online viel krasser auftreten, findet Dirk Baier, Soziologe an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), das Verhalten gefährlich: «Es muss leider immer damit gerechnet werden, dass es nicht bei rein verbalen Ausschreitungen bleibt. Es reichen ein, zwei radikalisierte Personen, die bereit sind weiterzugehen.» Der Experte findet es deshalb «verheerend», dass gewisse Politiker mit einzelnen Posts die Stimmung anheizen und in Kauf nehmen, dass Menschen auf die Barrikaden gehen. «Das ist absolut undemokratisch», sagt Baier.

Es erstaunt den Soziologen nicht, dass Neonazi-Gruppierungen, gewisse Exponenten der politischen Rechten sowie Verschwörungsideologen die gleichen Themen bewirtschafteten. Neben dem Antisemitismus sei auch die Homophobie ein sogenanntes Brückennarrativ, das verschiedene Bewegungen eine. Die staatsfeindliche Szene suche jetzt nach der Pandemie ein neues gemeinsames Feindbild. «Bei der Diskussion um Wokeness und Diversität wird der Staat wieder als zu mächtig hingestellt. Der, der uns verbietet, wie wir reden oder welche Kostüme wir an der Fasnacht tragen dürfen. Das ist offenbar attraktiv, weil sich viele betroffen fühlen.»

In welchem Milieu der Widerstand gegen die Lesung für Kinder entstanden ist, zeigt der Blick auf einen der Urheber des Protests in den Telegram-Chats. Um die Veranstaltung zu torpedieren, hat D. S. einen Fragenkatalog zusammengestellt, den die User an die Pestalozzi-Bibliothek senden können. Recherchen dieser Zeitung zeigen nun, dass D. S. der Reichsbürger-Szene zuzurechnen ist.

«Königreich Deutschland Schweiz»

Der Zürcher D. S. schwärmt online über die deutsche Reichsbürgerbewegung «Königreich Deutschland» (KRD). Die Bewegung lebt, abgeschottet von der Gesellschaft, auf mehreren Anwesen im Bundesland Sachsen. Den deutschen Staat lehnt sie ab.

Anfang dieses Jahres hat D. S. ein Treffen unter dem Namen «Königreich Deutschland Schweiz» im Raum Zürich organisiert und Vertreter der KRD in die Schweiz eingeladen. Auf dem Plan für das Schweizer Treffen standen für Reichsbürger typische Themen wie Dorfübernahme oder Homeschooling. Auf Anfrage dieser Zeitung sagte D. S. damals kurz vor dem Treffen, es sei abgesagt worden. Für eine aktuelle Stellungnahme ist er nicht mehr erreichbar.

Die heterogene Reichsbürgerszene aus Deutschland versucht seit Monaten, auch in der Schweiz Grundstücke und Immobilien zu erwerben, und hält Seminare ab. Im März des laufenden Jahres wurden zahlreiche bewaffnete Exponenten bei einer Razzia verhaftet. Ihnen werden Umsturzpläne vorgeworfen. Dass das KRD zum bewaffneten Teil der Szene gehört, ist nicht bekannt.

Im Gegensatz zu Versuchen in der Schweiz habe es das KRD in Deutschland geschafft, eine einheitliche Bewegung aufzubauen, sagt D. S. in einem Video. Man könne noch viel vom König Fitzek lernen. So sagte er in einem Selfie-Video: «Was Peter geschafft hat – was ich ihm hoch anrechne – ist, dass er sich in einem extraterritorialen Gebiet, in dem Deutschland nicht mehr seine Macht ausübt, seit über zehn Jahren sehr frei mit seinen Menschen bewegen kann.»

Der frühere IT-Unternehmer D. S. bezeichnet sich als selbstständiger Beziehungsarbeiter, Friedensaktivist und freischaffender Journalist. In einem seiner über 60 Youtube-Videos erzählt er von seiner Suche nach dem Sinn des Lebens. Während der Corona-Zeit – er nennt sie die «Plandemie» – habe er ihn schliesslich gefunden: Er wolle die Menschen aufklären. So rief er den Youtube-Kanal «Corona-Mahnwachen» ins Leben und sprach über den Unsinn der Impfung oder seine Erfahrungen mit den angeblich «illegitimen Behörden».

D. S. hält regelmässig Vorträge und gibt Seminare in der Staatsverweigererszene, die bis zu 600 Franken kosten. Auch ist er auf einem «Gemeinwohlmarktplatz» des KRD mit eigener Digitalwährung «E-Mark» mit Material aktiv.

Während Corona mahnte D. S. seine Follower mehrmals, «der anderen Seite» nicht zu harsch zu begegnen. Doch nun ruft er beim Thema Gendern klar zum Handeln auf. Bei Kindern habe es Grenzen, teilte er in einer Sprachnachricht auf Telegram Ende März mit. Er sagt, dass die LGBTQ-Bewegung von einer globalen Elite finanziert werde.

Dirk Baier ordnet ein: In diesen Verschwörungskreisen werde mit Feindbildern gearbeitet, was den offenen Austausch verhindere. Jetzt einzuknicken und die Veranstaltung in der Pestalozzi-Bibliothek abzusagen, wäre aus seiner Sicht deshalb falsch. «Wir müssen klar markieren, dass es Grenzen hat, und diese Bewegungen nicht noch bestärken, indem wir zeigen, dass ein solches Verhalten Erfolg haben kann.»

«Jetzt einknicken und die Veranstaltung absagen, wäre falsch»

Am Donnerstagabend beraten die Veranstalter der «Drag Story Time» darüber, ob sie die Lesung tatsächlich durchführen werden. «Wir schauen bis dann, wie sich die Lage online entwickelt», sagt Felix Hüppi von der Pestalozzi-Bibliothek. «Eine Absage würde ich sehr bedauern», sagt er.

Die Bibliothek hat am Mittwoch auf Instagram ein Statement veröffentlicht. Darin schreibt sie unter anderem: «In Bibliotheken werden auch Märchen erzählt, in denen oft traditionellere Rollenbilder vermittelt werden, womit die PBZ-Bibliotheken ein breites Spektrum abdecken. Die Kundinnen und Kunden entscheiden, welche Events sie besuchen möchten.»


134 Angriffe gegen LGBTQ-Menschen

Drag ist eine Kunstform, bei der Personen Kleider und Make-up tragen, mit denen sie auf spielerische und teils karikierende Weise die Identität des anderen Geschlechts betonen. Drag-Veranstaltungen wurden in vergangener Zeit in mehreren Ländern von konservativer und rechtsextremer Seite verbal angegriffen. In Wien musste im April eine Lesung von einem massiven Polizeiaufgebot begleitet werden. In München gab es rund um eine Lesung im Mai hitzige Diskussionen. In den USA, woher die Diskussion stammt, sind Drag-Lesungen schon eine Weile unter Beschuss. Dies geht einher mit einer zunehmenden Diskriminierung von queeren Personen weltweit. Die Schweiz verzeichnete im vergangenen Jahr mit 134 Angriffen und Diskriminierungen gegen LGBTQ-Menschen so viele Angriffe wie noch nie. (dsa)


tagesanzeiger.ch 17.05.2023

Kommentar zu bedrohter Lesung: SVP zündelt mit Reichsbürgern gegen «Genderismus» – das ist gefährlich

Das Narrativ der Partei und von extremistischen Gruppierungen gleicht sich immer mehr an. Die Folge davon ist ein Klima der zunehmenden Intoleranz.

David Sarasin

Bereits zum zweiten Mal innert Wochenfrist steht eine Veranstaltung, die sich mit Geschlechterrollen auseinandersetzt, unter heftigem Beschuss von rechts. Diesmal trifft es die «Drag Time Story» in der Pestalozzi-Bibliothek in Oerlikon, eine Lesestunde für Kinder. Bereits vor einer Woche musste ein Gender-Tag in einer Schule in Stäfa wegen Drohungen abgesagt werden.

Wieder baut ein Online-Mob aus Rechtsextremen, Verschwörungstheoretikern und Querdenkern den Druck auf – befeuert von Exponenten aus der SVP. Eine ähnliche Verschränkung von Politik und radikalen Gruppierungen gab es schon vergangenen Herbst, als Neonazis die «Drag Story Time» in Zürich störten. Wenige Tage darauf unterstützte die SVP das Anliegen der Faschisten im Gemeinderat. Zurzeit ist es Nationalrat Andreas Glarner, der die aufgeladene Stimmung auf Twitter immer weiter befeuert.

Es sind dieselben Kreise, die nun diese Veranstaltung verhindern wollen, die sich ansonsten über «Cancel Culture» beschweren. Sorgen macht aber etwas anderes: Das Narrativ von Verschwörungsideologien, Neonazis und der SVP läuft derzeit im Takt. Es scheint, als hätten sie mit dem Bekämpfen des «Genderismus» eine gemeinsame Stossrichtung gefunden.

Nicht nur in der Schweiz läuft es so. Auch in Österreich und Deutschland mussten jüngst Drag-Queen-Lesungen für Kinder nach Hetzkampagnen unter Polizeischutz gestellt werden. Dasselbe gilt in verstärktem Mass für die USA, wo es sich längst in Anti-Trans-Gesetzen niederschlug.

Die verschärfte hiesige Atmosphäre der Intoleranz geht einher mit einer Zunahme der Gewalt. 2022 wurden in der Schweiz so viele Angriffe und Diskriminierungen gegenüber LGBTQ-Menschen gemeldet wie noch nie – 134 waren es insgesamt. Da spielt es keine Rolle, dass der Online-Mob für die Pestalozzi-Lesung zur friedlichen «Mahnwache» aufruft. Der Ton wurde längst gesetzt.

Der Vorwurf von rechts lautet: Umerziehung von Kindern. Brainwashing. Indoktrinierung. Das ist Unsinn. Die «Drag Story Time» kann als Einblick in eine neue Welt gelesen werden. Ob man deren Werte mittragen möchte, können Kinder selber entscheiden. Ausserdem gibt es zahlreiche andere Veranstaltungen für Kinder, auch an der Pestalozzi-Bibliothek, die ein traditionelles Familienbild vermitteln.

Das Schlimmste, was aber derzeit in den Augen der rechten Ideologen passieren kann, ist offenbar die Infragestellung von Geschlechterrollen. Egal, ob es sie persönlich betrifft oder nicht. Ausserdem lässt sich das Thema gut politisch ausschlachten. Der Effekt davon ist ein stetiges Klima der Intoleranz. Man kann diese Entwicklung derzeit live miterleben.