«Rassismus-Vorwürfe helfen nichts»

NZZ am Sonntag: Martine Brunschwig Graf, die Präsidentin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus, stellt eine wachsende Fremdenfeindlichkeit fest. Sie warnt davor, mit Nazi-Vergleichen Wahlkampf zu betreiben

NZZ am Sonntag: Dunkelhäutige, Jenische und Roma erfahren in der Schweiz eine Verschlechterung ihres Ansehens und ihrer Lebensbedingungen, die Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung nimmt zu. Das schreibt eine Kommission des Europarats in einem neuen Bericht. Teilen Sie die Einschätzung?

Martine Brunschwig Graf: Ja, für diese Minderheiten trifft das leider zu, wir beobachten auch vermehrt antisemitische und antiislamische Tendenzen.

Der Europarat begründet die Entwicklung mit einer Verrohung in der politischen Diskussion.

Das Problem ist vor allem die Pauschalisierung: Wenn einzelne Vertreter einer Minderheit, zum Beispiel der Roma, einen Fehler machen und negativ auffallen, dann wird dies in der Öffentlichkeit oft der ganzen Gruppe angelastet. Das ist nicht nur eine Folge des politischen Diskurses, sondern auch das Ergebnis der Berichterstattung durch verschiedene Medien. Wenn in Abstimmungskämpfen zu Asyl- und Ausländerfragen Parteien und einzelne Personen mit ihren Plakaten und Aussagen an die Grenze gehen, besteht zudem die Gefahr, dass sich die Stimmung verschlechtert.

Diesbezüglich steht die SVP in der Kritik: SP-Präsident Levrat wirft ihr eine faschistoide Politik vor, BDP-Präsident Landolt spricht von brauner Politik und Parallelen zu den dreissiger Jahren. Sind die Vergleiche angemessen?

Wir sind nicht im Nationalsozialismus und nicht in den 1930er Jahren. Wenn man weiss, wie es damals war, ist es völlig klar, dass diese Vergleiche zu weit gehen. Aber in der Schweiz haben wir zurzeit ein Klima, in dem für alles ein Sündenbock gesucht wird. Das ist sehr gefährlich. Dafür ist aber nicht nur eine Partei verantwortlich, man sieht beispielsweise auch in den sozialen Medien, dass es sich um eine generelle Stimmung handelt. Gegen dieses fremdenfeindliche, die Minderheiten diskriminierende Klima hilft es aber nicht, wenn sich die Parteien mit Rassismusvorwürfen eindecken, nur um Wahlkampf zu betreiben. Das ist kontraproduktiv und verschärft bloss die Tonart.

Was sollen die Parteien tun?

Ich wäre froh, wenn sie eine Politik betrieben, in der Probleme angesprochen werden können, aber ohne Rassismus und Diskriminierung von Minderheiten. Sie sollen aufzeigen, was sie selbst zu bieten haben, um bestehende Probleme zu lösen, und nicht auf andere Parteien einschlagen.

Ist auch das Ja zur Zuwanderungsinitiative Ausdruck des fremdenfeindlichen Klimas, wie Sie es beobachten?

Das Abstimmungsresultat vom 9. Februar war ein Zeichen, dass die Stimmung nicht gut ist. Und man kann auch feststellen, dass sich das Klima eher noch verschlechtert hat. Die Mehrheit der Stimmbürger hat damals gezeigt, was sie denkt und meist nicht sagt.

Ist Kritik an der Zuwanderung in die Schweiz aus Ihrer Sicht a priori fremdenfeindlich?

Nein, das kann man so nicht sagen. Manche Bürger protestierten mit dem Ja gegen die EU und deren Politik gegenüber der Schweiz, etwa im Steuerbereich. Oder sie stimmten gegen Grenzgänger, nicht aus rassistischen Gründen, sondern wegen der täglichen Verkehrsüberlastung in den Grenzregionen. Solche Argumente spielten auch mit. Aber ein bedeutender Teil der Zustimmung beruhte sicher auch auf Fremdenfeindlichkeit. Ich stelle fest, dass sich bei Fremdenfeindlichkeit und Rassismus die Grenzen verschoben haben: Viele Leute sehen den Antirassismusartikel im Strafgesetz nicht mehr als eine Grenze, die es zu respektieren gilt, sondern bloss als Einschränkung der Meinungsäusserungsfreiheit. Das ist für mich neu.

Und wie erklären Sie sich diese Veränderung?

Im Ausland geht die Zunahme der Fremdenfeindlichkeit oft mit der Zunahme wirtschaftlicher Probleme und steigender Arbeitslosenzahlen einher, das sieht man in Frankreich. In der Schweiz aber geht es uns gut, wir sind wettbewerbsfähig, haben einen grossen Wohlstand und wenig Arbeitslosigkeit. Bei uns beruht Fremdenfeindlichkeit vielmehr auf der Angst, dass die Ausländer kommen, um etwas zu holen, und nicht, um etwas beizutragen – obwohl wir alle wissen, dass wir auf Ausländer angewiesen sind.

Nun steht mit der Ecopop-Initiative im Herbst noch einmal das Thema Zuwanderung zur Diskussion, diesmal gekoppelt an die Geburtenkontrolle im Ausland . . .

. . . dann sind wir im Kolonialismus! Ich habe zur Kenntnis genommen, dass die eidgenössischen Räte die Initiative für gültig erklärt haben. Aber ich habe meine Zweifel, ob sie tatsächlich in jedem Punkt verfassungskonform ist. Zumindest die Einheit der Materie würde ich infrage stellen: Zu sagen, man wolle die Zuwanderung beschränken, ist das eine. Aber in anderen Ländern Familienpolitik betreiben zu wollen, das ist wirklich eine neue Form des Kolonialismus.

Kritiker stellen die Initianten in die rechtsextreme Ecke. Zu Recht?

Nein, das Ziel der Geburtenkontrolle ist ja nicht an bestimmte Völker gekoppelt, sondern an das Kriterium der Entwicklungsländer. Darum halte ich sie für kolonialistisch.

Der Europarat fordert in seinem Bericht, dass die Schweizer Behörden die Parteien zur Vermeidung von Fremdenfeindlichkeit anhalten. Braucht es das?

Ich bin eine Liberale. Man kann nicht alles mit Gesetzen regeln. Die Parteien sind selbst dafür verantwortlich, zu ihrem Image Sorge zu tragen und dafür zu sorgen, dass sich ihre Mitglieder nicht rassistisch äussern.

Dann finden Sie es nicht nötig, dass die Antirassismuskommission mehr Kompetenzen erhält, wie das der Europarat vorschlägt?

Ich bin schon froh, wenn wir unsere heutige Funktion weiterhin wahrnehmen können. Der Nationalrat hat im Juni eine parlamentarische Initiative der SVP knapp angenommen, die den ausserparlamentarischen Kommissionen, also auch uns, verbieten will, sich öffentlich zu äussern. Das ist eine inakzeptable Maulkorbinitiative! Dieser Vorgang zeigt, dass es manche Kreise offenbar schon stört, wenn man öffentlich sagt, dass gewisse Dinge nicht gut sind. Die SVP-Fraktion hat überdies eine Motion eingereicht, die den Antirassismusartikel und auch die Kommission ganz abschaffen will. Immerhin ermöglicht uns diese Motion, zu zeigen, warum es uns braucht: Dass es für die soziale Stimmung im Land, für unsere Wirtschaft und auch für unseren Ruf in der Welt wichtig ist, dass man nicht über die Grenzen hinausgeht, wenn zum Beispiel über Dunkelhäutige oder Fahrende gesprochen wird.

Welche Partei geht denn Ihrer Meinung nach an die Grenze?

Das können verschiedene Parteien sein. In Genf haben wir das Mouvement citoyens genevois als Partei gegen die Grenzgänger. Letzte Woche war es der Berner Regierungsrat und Präsident der Konferenz der kantonalen Justizdirektoren, Hans-Jürg Käser, nicht ein SVP-Mitglied, sondern leider ein Freisinniger wie ich, der in einem öffentlichen Vortrag von Negerbuebli gesprochen hat. Da ist klar, dass wir als Kommission intervenieren und sagen werden: So geht es nicht! Das Beispiel zeigt, dass es uns weiterhin braucht. Interview: Stefan Bühler

ALBAN KAKULYA

M. Brunschwig Graf

Als Vertreterin der Genfer Liberalen sass Martine Brunschwig Graf von 2003 bis 2011 im Nationalrat. Zuvor gehörte sie der Genfer Kantonsregierung an, von 1993 bis 2005. Im November 2011 wählte sie der Bundesrat als Präsidentin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR). Brunschwig Graf ist Ökonomin und lebt in Genf. (sbü.)

«In der Schweiz haben wir zurzeit ein Klima, in dem für alles ein Sündenbock gesucht wird.»