«Ich bin mich selber»

Blick: Das Gericht sagt, er sehe seine Gewaltbereitschaft nicht ein

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Sebastien N.* (27) hat keine Neonazi-Glatze mehr, die Haare trägt er jetzt halblang, nach hinten gegelt. Für seinen Prozess am Bezirksgericht Zürich hat er sich einen Bart stehen lassen.

Er trägt eine Trainerhose, auf dem schwarzen T-Shirt steht vorne «1312» – ein Code für «All Cops Are Bastards», eine Polizisten-Beschimpfung. Auf dem Rücken ein Slogan aus dem Hells-Angels-Umfeld.

Gestern stand er vor Gericht, weil er in der Nacht auf den 5. Mai 2012 im Zürcher Niederdorf auf den Aargauer Marco Z.* (heute 29) schoss. Eine Kugel aus der Kleinkaliber-Pistole traf das Opfer, sie steckt heute noch in dessen Oberkörper. Die zweite ging daneben.

Täter und Opfer kannten sich aus dem Neonazi-Milieu. Beide behaupten von sich, heute nicht mehr zur Szene zu gehören. Zuletzt liefen sie sich 2009 an einer Erotikmesse über den Weg.

Trotzdem hätten sie an jenem Abend in der «Double-U»- Bar über alte Zeiten geredet, sagt N. «Er hat mich gelöchert über die Szene. Ich habe ihm aufgezeigt, dass ich seit 2007 nichts mehr damit zu tun habe.»

Dann seien sie durchs Niederdorf gegangen. Z. habe sich «umgedreht, mich angeschrien». N. griff zur Pistole. «Ich hatte Angst.» Den ersten Schuss habe er aus der Hüfte abgegeben. Aus Versehen sei er dann «noch mal auf den Abzug gekommen». Nach der Tat schrieb er einem Bekannten über die Handy-App «Whats-App» allerdings: «Verrat ist nicht verzeihbar. Deswegen dies.»

Im Gespräch in der Bar sei es «vor allem um den Austritt aus der Szene» gegangen, sagt hingegen Staatsanwältin Claudia Kasper. N. sei darüber «gar nicht erfreut gewesen». Marco Z. habe die Bar nur mit seiner Freundin verlassen. N. habe ihm etwas hinterhergerufen, das Opfer drehte sich um. N. habe die Waffe gezückt und abgedrückt. Von Notwehr keine Rede, so Kasper. Sebastien N. habe «aus Wut, gemischt mit Hass und Rache» geschossen.

Für N.s Verteidiger Ivo Harb ist von «viel Notwehr, aber auch ein bisschen Notwehrexzess auszugehen», sagt er. Er fordert drei Jahre Freiheitsstrafe, unter anderem für eventualvorsätzliche schwere Körperverletzung. Die Anklage will N. verwahren, zusätzlich zu den 15 Jahren Haft wegen versuchter vorsätzlicher Tötung. N. ist mehrfach vorbestraft. «Ich habe eine andere Persönlichkeit als andere», sagt er. «Ob man das als Persönlichkeitsstörung betrachtet oder als individuell, ist Ansichtssache. Ich bin mich selber.»

Am Abend zücken die Richter die Rote Karte und verurteilen N. zu zwölf Jahren Knast, unter anderem wegen versuchter vorsätzlicher Tötung. Ins Urteil fliesst auch die Persönlichkeitsstörung von N. ein. N. verfüge über eine «Gewaltbereitschaft», die er nicht einsehen wolle. Zudem ordnen sie eine Verwahrung an. Der Gerichtspräsident: «Sie haben dem Opfer keine Chance gegeben. Der ist einfach über den Haufen geschossen worden, auf gut Deutsch!»

* Namen der Redaktion bekannt

Die Haare trägt er jetzt halblang.

«Ich hatte Angst», sagt Sebastien N.