Experte zum Erfolg der Neonazis: «Die Szene in der Schweiz hat ein bedeutendes Potenzial»

Der Bund. Eine Videoreportage der Redaktion Tamedia zeigt erstmals auf, wie sich Schweizer Neonazis im In- und Ausland vernetzen und dank Corona neue Anhänger gewinnen. Experte Damir Skenderovic erklärt, wie das möglich ist.

Recherchen der Redaktion Tamedia, präsentiert in einem 40-minütigen Film, zeigen erstmals ein Netzwerk von Neonazis, das sich durch die ganze Schweiz zieht und enge Verbindungen zu rechtsextremen Gruppierungen im Ausland pflegt. Für Damir Skenderovic, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Freiburg und Experte für Rechtsextremismus, passt das ins historische Bild: Im Vergleich zum Ausland habe die Neonazi-Szene in der Schweiz viel mehr Freiheiten und sei dadurch immer wieder eine Drehscheibe für den internationalen Rechtsextremismus gewesen.

Recherchen der Redaktion Tamedia zeigen, dass rechtsextremes Gedankengut besonders von jungen Gruppen wie der Jungen Tat mit Erfolg verbreitet wird.

Rechtsextreme müssen sich nicht mehr physisch treffen, um sich zu vernetzen. Durch das Internet ist es auch nicht mehr so wichtig, ob man Mitglied einer Gruppierung ist. Früher kam man nur so an Treffen der Szene. Man kann sich rechtsextreme Ideen heute auf ganz anderen Wegen aneignen. Das geht über Propaganda und Sprache, im Internet und in den sozialen Medien. In den letzten zwei, drei Jahren ist in der Schweiz die Junge Tat mit ihren Videos und inszenierten Aktionen in den sozialen Netzwerken ein Beispiel dafür.

Es geht also nicht mehr um die Zahl der Mitglieder?

Mit ihren Auftritten, Demonstrationen und Inszenierungen will die Junge Tat den virtuellen, öffentlichen Raum besetzen. Es reichen ein paar wenige Propagandisten und Ideologen, die eingeschworen sind und im Internet auf sich aufmerksam machen und damit eine Anlaufstelle bilden.

Welche Rolle spielt die Schweiz international in der rechtsextremen Szene?

Die Schweiz war schon in der Vergangenheit immer wieder eine Drehscheibe für den Rechtsextremismus. Ich denke dabei zum Beispiel an die Schweiz als Konzertort. 2016 hat im Toggenburg ein Konzert mit über 5000 Besuchenden stattgefunden. Das ist eine sehr hohe Zahl und zeigt, dass die Szene in der Schweiz ein bedeutendes Potenzial hat und auch logistisch dazu in der Lage ist, solche Events auf die Beine zu stellen.

In welchen Ländern bauten Schweizer Rechtsextreme Kontakte auf?

Schweizer Rechtsextreme vernetzten sich mit Gleichgesinnten in den USA, in Grossbritannien, Deutschland, Frankreich, Italien und so weiter. Die Internationalisierung ist ein zentrales Kennzeichen des Rechtsextremismus nach 1945. Und die Schweiz hat in diesem Netzwerk immer auch eine Rolle gespielt.

Welche Rolle spielte die Schweiz dabei in Bezug auf die Verbreitung rechtsextremer Ideologie?

Die Schweiz wurde zum Beispiel nach 1945 zu einer Drehscheibe für Holocaust-Leugner. Sie konnten von hier aus relativ ungestört ihre Propaganda verbreiten. Diese Rolle nehmen einige im globalen Netzwerk übrigens auch heute noch ein, wobei sie inzwischen meist in anderen Ländern, in Russland oder dem Iran, wohnen. 

Wie müsste man dieser Internationalisierung begegnen?

Es bräuchte in Bezug auf Anti-Rassismus-Gesetze, das Verbot nationalsozialistischer Symbolik oder in der Frage der Holocaust-Leugnung eine viel stärkere internationale Zusammenarbeit der Behörden, um dagegen vorzugehen. Denn dieser transnationale Austausch von Propaganda hält den Rechtsextremismus am Leben. Aber die Schweiz ist dabei nicht sehr aktiv.

Seit 2020 spielt ein neuer Faktor eine Rolle: die Pandemie. Unsere Recherche zeigt, dass Rechtsextreme von Anfang an gezielt die Corona-Demonstrationen unterwandert haben.

Diese Diskussion wird in Deutschland seit Beginn der Pandemie sehr intensiv geführt. In der Schweiz findet diese Debatte aber kaum statt. Dabei ist es deutlich, dass Rechtsextreme versuchen, diese Situation auszunutzen, indem sie antisemitische und andere Verschwörungstheorien in die Diskussion bringen, die ja bereits viel älter sind als die Pandemie. Es zeigt sich auch in Deutschland oder in den USA, dass die extreme Rechte damit versucht, die Unzufriedenheit und die Wut, die in der Pandemie entstanden ist, für ihre eigenen Zwecke zu nutzen.

Die Schweiz wurde in Bezug auf Rechtsextremismus von Forschenden schon als «Insel des Friedens» bezeichnet.

Der Rechtsextremismus wurde in der Vergangenheit in der Schweiz oftmals unterschätzt. Man siedelte ihn an den Rändern der Gesellschaft an und übersah, dass gerade in jüngeren Generationen rechtsextreme Ideen immer wieder auf Anklang gestossen sind.

Warum ist das so?

Man hat der Schweiz auch eine Sonderrolle zugesprochen, weil sie in den 1930er- und 1940er-Jahren kein faschistisches Regime hatte. Man sah und sieht den Rechtsextremismus daher als ein Problem von Deutschland, Frankreich oder Österreich, nicht aber der Schweiz. Und nicht zuletzt wird der Rechtsextremismus in der Schweiz auf Gewalt reduziert. Es fehlt das Sensorium für andere, ideologisch geprägte Formen des Rechtsextremismus.Worin zeigt sich das?

Das war zum Beispiel bei den rechtsextremen Aufmärschen auf dem Rütli in den 2000ern deutlich zu sehen. Rechtsextreme skandierten dort im Jahr 2000 während einer Rede von Bundesrat Kaspar Villiger ihre Parolen. Villiger antwortete danach in Interviews, dass er nicht wisse, was für Leute das seien und welche politischen Positionen sie verträten. Das war gewissermassen das Eingeständnis von offizieller Seite, dass man auf behördlicher Seite nicht viel weiss über den Rechtsextremismus in der Schweiz.

Was ist seither passiert?

Es gab in der Folge zwar ein Forschungsprogramm des Schweizerischen Nationalfonds, das sich der Thematik annahm. Aber seither ist in der Forschung nur sehr wenig passiert. Heute widmen die Behörden dem Rechtsextremismus wenig Aufmerksamkeit. Das zeigt sich auch in den offiziellen Berichten, etwa des Schweizer Nachrichtendienstes, in welchen spärlich Informationen zum Rechtsextremismus vorhanden sind.

Kann man das rechtsextreme Potenzial in der Schweiz trotzdem irgendwie einschätzen?

Wie gesagt, gibt es dazu kaum aktuelle, präzise Daten von den Behörden. Es gibt aber eine Studie aus dem Jahr 2006. Damals wurde eine Umfrage unter Jugendlichen zwischen 16 und 20 Jahren gemacht. Zehn Prozent der Befragten gaben an, dass sie mit rechtsextremen Ideen oder Gruppierungen sympathisieren. Das ist eine enorme Zahl. Aktuellere Jugendstudien in anderen europäischen Ländern deuten auf ähnliche Zahlen hin.

Wie wirkt sich dieses Potenzial auf die Gefährlichkeit der Szene aus?

Auch hierzu gibt es kaum aktuelle Einschätzungen. Es gibt aber Hinweise aus der Vergangenheit. In den 1980er- und 1990er-Jahren gab es regelmässig rechtsextreme Gewalt in der Schweiz. Im europäischen Vergleich gab es sogar sehr viele rechtsextreme Gewalttaten. Für die Gegenwart kann man einen Blick auf andere Länder und die weltweite Entwicklung des Rechtsextremismus in den letzten Jahren werfen.

In den 1980er- und 1990er-Jahren schlossen sich vor allem junge, rechtsextreme Skinheads zu Gruppen zusammen und traten vermehrt in der Öffentlichkeit auf. Diese Jahre waren geprägt von extremen Gewalttaten. Allein zwischen 1988 und 1993 wurden in der Schweiz 378 Gewalttaten registriert. Dabei wurden 13 Menschen getötet und 145 Personen verletzt.

Zum Beispiel?

Länder wie Norwegen oder Neuseeland, die nicht als rechtsextreme Hotspots galten, standen in den vergangenen Jahren durch die Attentate in Utöya und Christchurch plötzlich im Zentrum der Aufmerksamkeit. Solche «Einzeltäter» haben durch die mediale Wirkung ihrer Taten auch eine Art «Vorbildfunktion» in der globalen, rechtsextremen Szene. Und auch die Schweiz ist Teil des globalen Phänomens. Sie ist keine Insel in dieser rechtsextremen Landschaft.

Der Nachrichtendienst der Schweiz sieht gerade in Einzeltätern die grösste Gefahr. Weil sie meist keinen Gruppierungen angehörten, seien sie kaum zu kontrollieren.

Es gibt in den letzten Jahren dieses Bild der «Einsamen Wölfe», also Personen, die als Einzeltäter agieren und völlig unabhängig Gewalt ausüben. Ich bin sehr skeptisch gegenüber dieser These. Denn auch Attentäter, die sich so radikalisiert haben, bewegen sich – durch das Internet und die sozialen Medien – in einem rechtsextremen kommunikativen und sozialen Netz. Sie tauschen sich dort mit Kontakten aus und radikalisieren sich – auch ohne dass sie formell einer Gruppierung angehören.

Die exklusive Videodokumentation der Redaktion Tamedia über das rechtsextreme Netzwerk der Schweiz finden Sie hier.