Dieser Lehrer liest Dürrenmatts «Die Physiker» nicht mehr in der Klasse – wegen Rassismus

Watson. Ein Lehrer stört sich über rassistische Äusserungen in einem Klassiker von Friedrich Dürrenmatt. Er fordert den Verlag auf, eine angepasste Buchversion zu veröffentlichen – sonst boykottiere er das Werk in der Schule.

Seine Forderung hat es in sich: Philippe Wampfler boykottiert Friedrich Dürrenmatts Drama «Die Physiker» in seinen Schulklassen. Und zwar so lange, bis der Verlag eine «zeitgemässe Version», ohne rassistische Bezeichnungen, veröffentlicht.

Wampfler, der als Deutschlehrer an der Kantonsschule Enge und als Dozent für Fachdidaktik Deutsch an der Universität Zürich arbeitet, wurde von einer Schülerin darauf aufmerksam gemacht. «Sie wollte das Werk nicht lesen, da es zweimal das rassistische ‹N-Wort› beinhaltete», sagt er zu watson.

Als Lehrperson betrachte Wampfler es als seine Aufgabe, «eine rassismusfreie Umgebung in der Schule» zu gewährleisten. Darum möchte der Zürcher «Die Physiker» nicht mehr im Unterricht lesen. Mindestens so lange, bis der Verlag eine Version ohne die rassistische Bezeichnung veröffentlicht. Diese Forderung richtet Wampfler in seinem Tweet direkt an den Herausgeber – Diogenes.

«In ihrer Identität abwerten»

Konkret soll der Verlag für die Schulen das Werk abändern. «Das Buch gilt an diversen Bildungsinstitutionen in der Schweiz und in Deutschland als Pflichtlektüre. Es kann nicht sein, dass Schülerinnen und Schüler im Unterricht eine rassistische Darstellung lesen müssen, die sie in ihrer Identität abwertet», sagt Wampfler.

Dürrenmatts «Die Physiker» sei aber kein Einzellfall. Der Kantonsschullehrer verzichtet in seinen Klassen auf jegliche Literatur, die rassistische Bezeichnungen enthalten. «Ich finde, jede verantwortungsvolle Lehrperson sollte seine Lernenden vor Diskriminierung schützen», sagt Wampfler. Mit dieser Betrachtung stosse er aber nicht überall auf offene Ohren.

So sei ihm vorgeworfen worden, dass man Literatur immer im Original behandeln müsse. «Es gibt Stimmen, die sagen, als Lehrperson müsse ich mich mit den Schülern auseinandersetzen, dass Wörter früher eine andere Bedeutung hatten», sagt er. Für ihn widerspiegle das aber ein seltsames Verständnis von Literatur.

Denn gerade ältere Texte würden oft erneuert – wegen der Lesbarkeit oder weil sie zur Schul-Lektüre wurden. «Als weisse Lehrperson steht es mir auch nicht zu, den Betroffenen zuzumuten, mit wie viel Diskriminierung sie auskommen müssen», sagt Wampfler.

«Eine schmerzhafte Wiederholung»

Unterstützung in seinem Vorhaben erhält der Lehrer von der Soziologin und Rassismus-Expertin Anja Nunyola Glover. «Ich finde die Forderung für eine angepasste Version sehr angebracht. Es ist eine schockierende Tatsache, dass solche Bücher immer noch im Unterricht behandelt werden» sagt Glover..

Der verwendete Begriff in Dürrenmatts «Die Physiker» stelle für alle Betroffenen, die das lesen müssen, eine schmerzhafte Wiederholung dar. «Als Schwarze Person ist man im Schweizer Lehrplan unterrepräsentiert. Wenn man vorkommt, dann oft nur in Form von Stereotypen», schildert die Aktivistin.

Glover spricht aus Erfahrung: «In der Schule wurde ich oft mit rassistischen oder kolonialen Darstellungen konfrontiert.» Ihr gehe es darum, ein Bildungssystem anzustreben, das frei von Rassismus sei.

«An den Schulen sollte Bildung für alle im Fokus liegen und nicht gewisse Buch-Klassiker, die diskriminierende Bezeichnungen beinhalten», sagt sie. Sie fordert deshalb Verlage auf, ihre Bücher für die Schulen von rassistischen Äusserungen zu befreien.

Keine Version nur für Schulen

Der Diogenes Verlag hat sich mit dem Thema bereits auseinandergesetzt. So sei man generell bestrebt, in Neuausgaben «auf sensibles Gedankengut wie Kolonialismus oder Rassismus klar hinzuweisen», wie der Verlag auf Anfrage von watson mitteilt.

Gleichzeitig wolle man den Originaltext respektieren – aufgrund der sprachlichen und kulturellen Gegebenheiten. Angesprochen auf Dürrenmatts «Die Physiker» und die darin verwendeten Äusserungen schreibt Diogenes: «Wir versuchen bei bestimmten Bezeichnungen einen historischen Kontext mitzuliefern, damit die Leserschaft den Text einordnen kann – mithilfe von Fussnoten, Disclaimer oder einem Vor- oder Nachwort.»

Eine separate Version nur für die Schulen – ganz ohne rassistische Äusserungen – will der Verlag aber nicht herausgeben. «Wir finden, es wäre nicht sinnvoll, zwei verschiedene Fassungen zu publizieren.»