Die Delamuraz-Affäre und ihre Folgen

Neue Zürcher Zeitung.

Antisemitismus-Vorwürfe, Kriegsrhetorik, vernichtete Akten – vor 25 Jahren schlitterte die Schweiz in eine beispiellose internationale Krise.

Es ist ein Schlussbukett, das nach hinten losgeht. Am 31. Dezember 1996 erscheint in den Zeitungen «24 Heures» und «Tribune de Genève» ein Interview des abtretenden Bundespräsidenten Jean-Pascal Delamuraz. Der Romand, ein Mann von sanguinischem Gemüt, redet sich den Frust des Jahres von der Seele. «Gewisse Senatoren» mit «gewisser Unterstützung» wollten das Land «destabilisieren und diskreditieren», sagt er. Es gehe «um nichts anderes als um die Zerstörung des Finanzplatzes Schweiz». Die Idee eines eidgenössischen Entschädigungsfonds für Holocaust-Opfer ist für JPD, wie ihn Vertraute nennen, «nichts anderes als Lösegeld und Erpressung». Und überhaupt: «Wenn ich gewisse Leute höre, frage ich mich manchmal, ob Auschwitz in der Schweiz liegt.» Der erste Skandal des neuen Jahres ist perfekt.

«Goebbels wäre stolz»

Das Land steht bereits seit Monaten international am Pranger. Aus nacktem Profitstreben händigten die Banken den Nachfahren von Nazi-Opfern die ihnen zustehenden Gelder nicht aus, so lautet etwa die Kritik des republikanischen Senators Alfonse D’Amato aus New York und des Jüdischen Weltkongresses (WJC). Doch es geht nicht nur um sogenannt nachrichtenlose Vermögen. Die Schweiz habe während des Weltkriegs auch in bisher unbekanntem Mass Profit geschlagen, etwa dank dem Handel mit Raubgold. Angesichts des Powerplays aus Übersee finden 1996 erste Gespräche der Banken mit dem WJC statt. Das Volcker-Komitee beginnt mit der Ermittlung von Bankkonten. Der Bundesrat setzt zudem eine unabhängige Historikerkommission ein, um die Schatten des Zweiten Weltkriegs auszuleuchten, sowie eine Task-Force unter der Führung des brillanten Jungdiplomaten Thomas Borer. Dieser soll die Kommunikation in der delikaten Sache kontrollieren.

Von Delamuraz’ Sololauf am Jahresende erfährt Borer indes in den Skiferien – als es schon zu spät ist. Der Schaden ist enorm, «Hammer ins Porzellan» titelt der «Spiegel».

Der Sprecher des amerikanischen Aussenministeriums bezeichnet die bundesrätlichen Worte als «alberne Beschuldigung». Der WJC verurteilt die «schamlosen Anspielungen» und verlangt die «sofortige und sehr klare» Rücknahme. Die israelische Zeitung «Maariv» ätzt: «Joseph Goebbels wäre stolz auf einen Schüler wie Delamuraz.» Ein Boykott von Schweizer Banken wird angedroht, was die Börse vorübergehend zittern lässt.

In der Schweiz indes gerät der Freisinnige Delamuraz weniger unter Beschuss. Lediglich als ungeschickt, missverständlich oder fahrlässig beurteilen bürgerliche Politiker seine Aussagen. SP-Präsident Peter Bodenmann kritisiert Delamuraz als «Bauchredner», der gesagt habe, was viele Bürgerliche denken würden. Tatsächlich meinen in einer Blitzumfrage des «Blicks» 44,6 Prozent der Befragten, Delamuraz solle sich nicht von seiner Meinung distanzieren. Ein Sprecher des Bundesrats erklärt: Von den ersten 150 Zuschriften seien 145 positiv ausgefallen. Die Delamuraz-Affäre löst eine Welle von Antisemitismus aus. Die Zahl der Beschimpfungen und Bedrohungen von Vertretern jüdischer Organisationen in der Schweiz nimmt sprunghaft zu. Hassbriefe in der Post, Hakenkreuze an der Wand. Und was tut die Landesregierung?

Der Bundesrat weilt weiterhin in den Ferien. Seine erste offizielle Sitzung ist auf den 15. Januar angesetzt. Immerhin lässt der neue Bundespräsident, Arnold Koller, den Task-Force-Chef Borer vor die Medien treten, um «Missverständnisse» zu klären. Angesichts der unhaltbaren Situation wird im Hintergrund Druck auf Delamuraz ausgeübt, dass er sich – wie von den Kritikern gefordert – entschuldige. Tagelang wird um jedes Wort gerungen, es werden fast zwanzig Textvarianten eines Entschuldigungsbriefes an Edgar Bronfman, den Präsidenten des WJC, erarbeitet, bis Delamuraz einem Minimalkompromiss zustimmt: «Ich bedaure, dass ich Ihre Gefühle sowie jene vieler anderer betroffener Menschen, insbesondere der jüdischen Gemeinschaft, verletzt habe. Ich versichere Sie, dass dies nicht meine Absicht war.» Seine Ausführungen hätten auf «unpräzisen» Informationen beruht. Bronfman antwortet: «Ich bin erfreut, zum konstruktiven Dialog mit den schweizerischen Behörden und Banken zurückzukehren.»

Doch am Tag, an dem Delamuraz den Brief unterschreibt, wird schon der nächste Skandal publik, der noch gravierendere Folgen haben wird.

Der Wachmann als Verräter

Am Dienstag, 14. Januar, informiert die Schweizerische Bankgesellschaft (SBG) die Medien über einen «bedauerlichen Fehler». Der für die Archivierung zuständige Kadermann der Bank habe möglicherweise relevante Unterlagen zur Vernichtung freigegeben – obwohl der Bund erst Wochen zuvor einen dringlichen Aktenvernichtungsstopp beschlossen hat. Ein Versehen, Ignoranz oder doch böse Absicht? Die NZZ kommentiert die Aktenvernichtung als «kriminell oder ‹kriminell dumm›».

Die Geschichte ist skurril. Ein Wachmann namens Christoph Meili hat abends im Schredderraum der Bank historische Akten entdeckt, die zur Vernichtung bereitstanden. Der Freikirchler Meili sieht es als Zeichen Gottes und nimmt einen Teil mit, um «dem jüdischen Volk gegenüber etwas zu tun». Überzeugt davon, Zeuge eines Verbrechens geworden zu sein, übergibt er die Akten der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich, die sie der Staatsanwaltschaft weiterreicht.

Meili gerät sogleich zwischen die Fronten. Statt dem Wachmann zu danken, dass er ein Missgeschick der Bank aufgedeckt hat, geht Robert Studer, der Verwaltungsratspräsident der SBG, in die Offensive. Der Mann, der die nachrichtenlosen Vermögen auch schon öffentlich als «peanuts» bezeichnet hat, sagt im Schweizer Fernsehen: «Mein heutiger Wissensstand lässt mich vermuten, dass die Gründe, die Herr Meili bis jetzt für sein Handeln angegeben hat, nicht die einzigen sind.» Obwohl Studer keinerlei Beweise vorlegt, wird Meilis Tat nun von Teilen der Bevölkerung als Ausdruck von Geltungssucht oder gar als Landesverrat kritisiert. Zumal der unbedarfte Meili im Ausland als «Held» gefeiert wird. Reporter aus aller Welt berichten über ihn – von der ARD bis zur «Vanity Fair». Die Schweizer Banken stehen nun unter Generalverdacht.

Derweil schwelt die Delamuraz-Affäre weiter. Der Schriftsteller Adolf Muschg schreibt im «Tages-Anzeiger», dass Auschwitz «nicht nur überall lag, sondern auch in der Schweiz». Linke Politiker und Kulturschaffende publizieren das «Manifest vom 21. Januar 1997», das eine Auseinandersetzung mit den Geschichtsbildern und dem Antisemitismus in der Schweiz verlangt. Die SP fordert doch noch Delamuraz’ Kopf: Dass sich der Magistrat nicht klar von seinen Aussagen distanziert habe, sei eine «Schande für die Schweiz». Die Rücktrittsforderung versandet rasch: Die Bürgerlichen bezeichnen sie als «dümmlich und schädlich für die Position der Schweiz».

Folgenreiche Indiskretion

Zu einem prominenten Rücktritt kommt es trotzdem noch: Ende Monat veröffentlicht die «Sonntags-Zeitung» unter dem Titel «Botschafter Jagmetti beleidigt die Juden» Auszüge eines internen Strategiepapiers, das der Schweizer Botschafter in Washington Mitte Dezember an die Berner Zentrale gesandt hat. Genüsslich wird «die aggressive Wortwahl» des sonst «banalen» Inhalts zur Skandalgeschichte frisiert: Von einem «Krieg» schreibt Carlo Jagmetti, «den die Schweiz an der Aussen- und Innenfront führen und gewinnen muss. Den meisten unter den Gegnern kann man nicht vertrauen.» Flankiert wird der Zeitungsbericht von einem Kommentar von Chefredaktor Ueli Haldimann. Der «Botschafter der Bunkermentalität» habe «rein gar nichts begriffen», kurz: Jagmetti müsse weg!

In der aufgeheizten Stimmung entfaltet die Indiskretion eine sofortige Wirkung. Das amerikanische Aussenministerium spricht von einer «besorgniserregenden Verirrung». Auch der Schweizer Aussenminister Flavio Cotti kritisiert öffentlich die Wortwahl seines Botschafters. Wer dessen Bericht mit welchem Motiv an die «Sonntags-Zeitung» zugespielt hat, bleibt ein Rätsel.

Klar ist indes, dass der desavouierte Jagmetti so nicht weitermachen kann. Der 64-Jährige tritt in den vorzeitigen Ruhestand. Die NZZ ärgert sich über den «Abschuss aus dem Hinterhalt». Der «Spiegel» bilanziert: «Unsensibel, arrogant oder einfach kopflos verbockten Politiker und Wirtschaftsführer jede Gelegenheit, die überfällige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ihres Landes in würdige Bahnen zu lenken.»

Zu einer aussenpolitischen Entspannung kommt es erst, als sich die Schweizer Grossbanken im August 1998 zu einer Zahlung von 1,25 Milliarden Dollar zugunsten von Holocaust-Überlebenden und deren Nachkommen verpflichten. 2000 beendet das Volcker-Komitee seine Suche nach nachrichtenlosen Vermögen. 2005 nimmt der Bundesrat die 25 Einzelstudien und den Syntheseband der Bergier-Kommission entgegen. Doch die Debatte um die Verstrickungen mit Nazi-Deutschland hallen bis heute nach – etwa im Streit um die Bührle-Sammlung im Zürcher Kunsthaus