Was denken Schweizer Juden über Antisemitismus?

tachles.ch

Der klassische Antisemitismus, zum Teil in neuen Formen, bleibt das Hauptproblem, wenn es um die Wahrnehmung von Judenfeindschaft geht. Erstmals seit zwölf Jahren ist in der Schweiz wieder eine Studie mit Schwerpunkt Antisemitismus durchgeführt worden. Während rund zehn Wochen nahmen im vergangenen Januar und Februar in der Schweiz wohnhafte Personen, welche sich selbst als jüdisch definieren, an der Online-Umfrage der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) teil. Die nun vorliegenden Resultate zeigen auf, wie die hiesigen Jüdinnen und Juden Antisemitismus selbst erfahren und wahrnehmen.

Die Resultate zeigen, dass Antisemitismus in der Schweiz von etwas mehr als der Hälfte (51,5 %) als aktuelles gesellschaftliches Pro-blem angesehen wird. Drei Viertel der Befragten stellten über die letzten fünf Jahre eine Zunahme des Problems fest. Am stärksten wird diese Zunahme in den sozialen Medien wahrgenommen. Knapp 50 % gaben an, im Netz Zeuge von Bedrohung oder Beleidigung anderer Jüdinnen und Juden geworden zu sein.

Mit rund 180 Personen, welche angegeben haben, Zeuge von antisemitischen Beleidigungen im Netz geworden zu sein, ist die Zahl geringer als die 485 Fälle von Antisemitismus im Netz, welche der Schweizerisch Israelitische Gemeindebund (SIG) in seinem Bericht für das Jahr 2019 nennt.

Sicherheitsgefühl und Vermeidungsverhalten

Die Wahrnehmungen der Judenfeindlichkeit haben auch Auswirkungen auf das Sicherheitsgefühl unter Schweizer Juden: Rund ein Drittel der Befragten gibt an, gelegentlich Veranstaltungen oder Örtlichkeiten zu meiden. Bei den unter 44-Jährigen sind es vier von zehn Personen, welche hie und da eine Veranstaltung aus Unsicherheit nicht besuchen. Zum Unterschied in den Altersgruppen sagt Baier: «Gewöhnlich weisen jüngere Leute ein geringeres Vermeidungsverhalten auf, was in dieser Studie nicht der Fall ist. Jedoch kann hier eine Korrespondenz zwischen den Opfererfahrungen und dem Vermeidungsverhalten beobachtet werden. Jüngere Jüdinnen und Juden geben häufiger an, Opfer von antisemitischen Vorfällen zu werden, dies könnte ein Grund für das erhöhte Vermeidungsverhalten sein. Dies widerspricht aber auch dem klassischen ‹Furchtparadoxon›, wonach ältere Menschen häufiger vermeiden, obwohl sie grundsätzlich weniger Gefahren ausgesetzt sind.» Während der letzten fünf Jahre dachte knapp ein Fünftel über eine potenzielle Auswanderung aus Sicherheitsgründen nach. Nebst vergangenen Vorkommnissen wurde auch nach einer Zukunftseinschätzung für die nächsten zwölf Monate gefragt. 14 % der Teilnehmer befürchten, selbst Opfer eines körperlichen Übergriffs zu werden, rund 20 % befürchten, eine verbale Bedrohung oder Beleidigung im Internet oder ausserhalb der Wohnung erleben zu müssen. Ein Unterschied besteht hier zwischen Personen, welche klar als jüdisch identifizierbar sind und jenen, welche keine jüdischen Kleidungsstücke oder Gegenstände tragen. Von Letzteren äussern nur 6,5 % die Befürchtung, Opfer eines verbalen Übergriffs zu werden, bei ersteren sind es 40 %. Menschen, welche sich zudem als «streng orthodox (Charedim)» oder «orthodox» bezeichnen und von denen 95 %, respektive 60 % angegeben haben, öffentlich als jüdisch erkennbar zu sein, weisen mit knapp 40 % das stärkste Vermeidungsverhalten auf. Ob dieses Vermeidungsverhalten durch die Erkennbarkeit hervorgerufen wird, müsste durch weitere Befragungen bei den betroffenen Personen erforscht werden.

Jüdische Identität

Die Zuordnung solcher Unterschiede wurde durch den letzten Teil der Umfrage zur jüdischen Identität sowie deren Art und Stärke möglich. Zuerst konnten die Befragten angeben, weshalb sie sich als jüdisch verstanden, wobei Mehrfachantworten möglich waren. Vier von fünf Befragten gaben an, aufgrund der elterlichen Abstammung jüdisch zu sein. Knapp 70 % gaben Religion respektive Kultur und Tradition als Grund der jüdischen Identität an. Andere Antworten waren das kulturelle Erbe, die Erziehung oder die ethnische Zugehörigkeit. Acht Prozent der Befragten gaben an, zum Judentum konvertiert zu sein, der Rest ist von Geburt an jüdisch. 82 % der Teilnehmer sind aschkenasisch, 11 % gemischt und 5 % sephardisch.

Mit 28 % sind sich als «traditionell» jüdisch bezeichnende Personen die grösste Gruppe. Es folgen Bezeichnungen wie «einfach jüdisch» (22,5 %), «reform/progressiv/liberal» (21,4 %), «orthodox» (14,7 %) und «andere» (7,1 %). Als «streng orthodox» (Charedi) bezeichnete sich nur jeder 20. Teilnehmer oder Teilnehmerin. Die kleinste Gruppe bilden Personen mit gemischter Identität (jüdisch / nicht jüdisch), sie machen 1 % aus. 85 % der Studienteilnehmer gehören einer jüdischen Gemeinde an.

Weiter wurde die Ausprägung der jüdischen Identität etabliert. Hier wurde nach dem Pflegen jüdischer Bräuche gefragt: jährliche Teilnahme an einem Sederabend (88 %), Fasten an Jom Kippur (69 %), Anzünden einer Kerze freitagabends (58 %), Beachten der jüdischen Speisegesetze (37 %), wöchentliche Gänge zur Synagoge (32 %) und das Nichteinschalten des Lichts am Schabbat (22 %). Etwas mehr als jeder Siebte gab an, alle sechs Bräuche einzuhalten. Die Befragten wurden zudem gebeten, anzugeben, wie wichtig ihnen verschiedene Elemente für ihr Gefühl von jüdischer Identität sind. Dabei waren acht verschiedene Themen einzuschätzen. Davon ist «die Erinnerung an den Holocaust zu bewahren» für 94,4 % der Befragten eher oder sehr wichtig – hier fällt die Zustimmung insgesamt am höchsten aus. Für 89,4 % der Befragten ist es eher oder sehr wichtig, «sich als Teil des jüdischen Volkes zu fühlen». Gleich verhält es sich mit dem «Kampf gegen Antisemitismus», ebenfalls für neun von zehn Befragten eher wichtig bis sehr wichtig. «An Gott zu glauben» erachtet etwas weniger als die Hälfte (47,7 %) als für die eigene jüdische Identität wichtig.

Bezüglich Alter, Geschlecht und geografischer Breite ist die Studie gut abgedeckt. 48 % der Teilnehmenden sind Frauen, 52 % Männer. Die Alterskategorie 60+ ist mit 41 % vertreten, darauf folgen «45–59» (23 %), «30–44» (22 %) und «16–29» (14 %). Der Grossteil der Befragten, 70 %, kommt aus städtischer Umgebung, die Region Zürich ist mit knapp 60 % leicht übervertreten, dort lebt mit 5340 Personen nicht ganz ein Drittel der gesamtschweizerischen jüdischen Bevölkerung.

Dass rund 100 Personen diesen Teil des Fragebogens nicht ausgefüllt haben, erklärt Baier dadurch, dass diese Fragen erst ganz am Schluss der Umfrage aufgeführt wurden, zu einem Zeitpunkt, an dem viele Teilnehmer abspringen.

Schweizer Juden fühlen sich sicherer als europäische

Ein Ziel der Studie war der Vergleich der Wahrnehmungen von Schweizer Jüdinnen und Juden mit jenen der zwölf EU-Länder, die in einer Studie von 2018 von der Europäischen Agentur für Fundamentale Rechte (FRA) erhoben wurde. Die Schweizer Juden fühlen sich sicherer als jene in der EU und wurden seltener Opfer von antisemitischen Übergriffen. In der EU sehen im Durchschnitt 85 % der Befragten Antisemitismus als ein zentrales gesellschaftliches Problem an, deutlich mehr als die 51 % in der Schweiz. Dasselbe gilt auch für die unterschiedlichen Phänomene des Antisemitismus.

Bei Vorkommnissen wie feindseligen Äusserungen auf der Strasse, Antisemitismus in Medien und Politik sowie Vandalismus liegen die EU-Durchschnittswerte um zwischen 30 und 40 % höher als jene in der Schweiz. In beiden Studien sind die Kontexte, in welchen es zu antisemitischen Behauptungen oder Feindseligkeiten kommt, dieselben. Am häufigsten wird das Internet genannt, es folgen klassische Medien, der öffentliche Raum kommt an dritter Stelle. Darauf, dass sich die jüdische Gemeinschaft in der EU unsicherer fühlt, weist das erhöhte Vermeidungsverhalten und die öfters geäusserte Furcht vor Übergriffen in den kommenden zwölf Monaten hin, so fürchtet jeder vierte Befragte in der EU, im kommenden Jahr Opfer eines körperlichen Übergriffs zu werden.

Lediglich bei der Diskriminierung fühlen sich Schweizer Jüdinnen und Juden schlechter behandelt. In allen Kontexten, in welchen Diskriminierung erlebt wurde, sei es am Arbeitsplatz, in der Schule oder bei der Wohnungssuche, liegt der Anteil der Personen, welche von einem solchen Vorkommnis berichten, um ein bis sechs Prozentpunkte höher.

Ein entscheidender Unterschied zur FRA-Studie ist zudem, dass die Täterschaft in der Schweiz nicht klar identifizierbar ist. Während in der EU im Schnitt rund die Hälfte antisemitischer Vorfälle klar Personen mit muslimisch-extremistischem oder linksradikalem Hintergrund zugeordnet werden kann, ist dies in der Schweiz nicht der Fall. Auf die Frage, aus welchem gesellschaftlichen Milieu Antisemitismus kommt, liefert die Studie der ZHAW keine Antwort.

Opfer- versus Täterstudien

Es lohnt sich daher, ein Blick in andere Studien zu werfen, welche nicht nur Opfer von Antisemitismus erfassen, sondern die gesamte Bevölkerung in den Blick nehmen. In einem Pilotprojekt hat die Gesellschaft für Sozialforschung Bern 2007 in Zusammenarbeit mit tachles eine solche Studie durchgeführt. In einer Stichprobe von 1000 Personen mit und ohne Schweizer Nationalität wurde nach deren Wahrnehmungen und Meinungen über Jüdinnen und Juden gefragt. Rund ein Zehntel der Befragten äusserte sich antisemitisch, ein weiteres Drittel neigte dazu, antijüdischen Klischees zuzustimmen. Die Stereotype, welche in der Schweizer Bevölkerung gegenüber Juden vorherrschten, wurden aber als mehrheitlich positiv identifiziert. Daraus entstand ein regelmässig durchgeführtes Rassismus-Monitoring, welches heute Teil der vom Bundesamt für Statistik geführten Erhebung zum Zusammenleben in der Schweiz (ZidS) ist. Im Zwei-Jahres-Rhythmus werden rund 3000 Personen befragt, womit die Stimmung gegenüber Jüdinnen und Juden in der Bevölkerung gemessen wird.

Während die Antisemitismusberichte des SIG von einem leichten Anstieg an antisemitischen Vorfällen zeugen – 16 im Jahr 2015, die folgenden Jahre jeweils 25, 39, 42 und 38, online wurden 2018 535 und 2019 485 Fälle erfasst –, zeigt die ZidS-Erhebung ein kon-stantes Verhältnis der Gesamt- zur jüdischen Bevölkerung auf – der Anteil Personen, welche «Feindseligkeit gegenüber Jüdinnen und Juden» aufweisen, schwankt über die letzten zehn Jahre zwischen 9 und 12 %. In seinem Bericht erklärt der SIG die markant höheren Zahlen registrierter antisemitischer Vorfälle im Netz vor allem dadurch, dass Moderierende, welche in Kommentarspalten von Online-Zeitungen solche Aussagen suchen und entfernen, nicht ausreichend geschult sind, um auch weniger offensichtliche, «verklausulierte» antisemitische Aussagen zu identifizieren. Zudem würde auf Plattformen wie Facebook anscheinend selten kontrolliert, was zu einer grossen Anzahl an antisemitischen Kommentaren führe.

Die Studie «Verbreitung extremistischer Einstellungen und Verhaltensweisen unter Jugendlichen in der Schweiz» von Patrick Manzoni und anderen Forschern der ZHAW versuchte festzustellen, in welchen sozialen Kreisen Antisemitismus vorherrscht. Anhand einer Stichprobe von 8000 Jugendlichen konnte festgestellt werden, dass Antisemitismus bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund aus arabischen Ländern dreimal so hoch ist wie bei Jugendlichen ohne Migrations-hintergrund – 18 respektive 6 %. Dies bietet die Möglichkeit, gezielt Bevölkerungsgruppen, in welchen antisemitische Haltungen bestehen, nach der Maxime «Vorbeugung ist besser als Heilung» anzugehen.

Erstmals liefert die Studie der ZHAW einen wichtigen Einblick in die Befindlichkeit der jüdischen Bevölkerung und bietet als erste solche Studie einen Ausgangspunkt für weitere politische Arbeit.