Antisemitismus zwischen Alltag und Anschlag

SRF.ch

Der Angriff auf eine Synagoge im deutschen Halle ist ein Extrembeispiel. Aber es fügt sich in ein Gesamtbild.

Heute, am 21. Juli 2020, hat der Prozess gegen den 27-jährigen Stephan B. begonnen. Er wollte am 9. Oktober 2019, am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur, in der Synagoge von Halle ein Blutbad anrichten.

Nur eine Holztüre, kein Polizist, hinderte den rechtsextremen Täter an seinem Vorhaben. Als der Anschlag scheiterte, tötete der Angreifer zwei Unbeteiligte: eine Frau, die sich zufällig vor der Synagoge befand und einen Mann in einem Dönerimbiss.

Halle ist ein Extrembeispiel. Aber es fügt sich in ein Gesamtbild.

Nach dem neusten Verfassungsschutzbericht hat die Zahl antisemitischer Straftaten den höchsten Stand seit Beginn der entsprechenden Statistik vor rund 20 Jahren erreicht. Über 90 Prozent gehen auf das Konto von Rechtsextremen.

«Kein Umdenken»

Für eine Einschätzung der Lage ist Stephan Kramer besonders berufen. Er ist Jude und persönlich betroffen – und gleichzeitig als Chef des Verfassungsschutzes von Thüringen auch professionell mit Antisemitismus befasst. Er wird tatsächlich bedroht und prüft regelmässig die Radmuttern seines Autos.

Kramer zieht eine niederschmetternde Bilanz: Der Anschlag von Halle sei einem eklatanten Sicherheitsversagen geschuldet. Und, noch schlimmer: Kramer glaubt nicht, dass der Anschlag ein Umdenken in Deutschland bewirkt, was den Umgang mit Rechtsextremismus angeht.

Mit Geld ist es nicht getan

Die orthodoxe jüdische Gemeinde in Halle ist noch immer unter Schock. An der Gemeindeversammlung nur zwei Monate nach dem Horrortag war der Anschlag kein Thema. Niemand erwähnte die Tat auch nur mit einem Wort.

Aber die Sicherheit ist ein Thema. Der Vorsteher der Gemeinde, Max Privorozki, kritisiert, dass der Staat zwar Geld für zusätzlichen Schutz zur Verfügung stellen, aber die Umsetzung der Gemeinde überlassen will. «Das heisst, wir kriegen das Geld. Mit der Botschaft: ‹Macht, was ihr wollt. Aber wenn was passiert, dann seid ihr selber schuld›», kritisiert er. «Das wollen wir nicht.»

«Welche Synagoge?»

Es war nur eine Holztüre, die ein Blutbad in der Synagoge von Halle verhinderte. Als Privorozki die Polizei alarmierte und schrie: «Es wird geschossen, die Synagoge wird angegriffen», fragte die Zentrale zurück: «Welche Synagoge?» und wusste nicht einmal die Adresse.

«Als wären wir in New York oder Paris. Es gibt hier nur eine einzige Synagoge.» Privorozki ist heute noch fassungslos. Auch dass an diesem Tag der höchste jüdische Feiertag zelebriert wurde und somit eine erhöhte Gefährdungslage bestand, war der örtlichen Polizei nicht bekannt.

Scheinhinrichtung in der Schule

Auch im «ganz normalen» Alltag erleben Juden einen zunehmend aggressiveren Antisemitismus, zum Beispiel in der Schule. Vor drei Jahren machten brutale Angriffe auf jüdische Schüler Schlagzeilen. Der Sohn von Wenzel Michalski, dem Direktor von Human Rights Watch Germany, wurde bewusstlos gewürgt und kam mit Blutergüssen nach Hause.

Der schwerwiegendste Vorfall geschah, als ihm ein älterer Schüler eine täuschend echte Replika-Pistole vor die Brust hielt und abdrückte – eine Scheinhinrichtung.

Das Schlimmste aber sei die Reaktion der Lehrerinnen und Lehrer gewesen, kritisiert Michalski. Sie hätten sich verleugnen lassen, Mails und Telefonanrufe nicht beantwortet und hätten den Übergriffen keinen Riegel vorgeschoben. Zu heikel sei das Thema für viele in der Lehrerschaft.

Mikrokosmos Schule

Der Antisemitismusbeauftragte der jüdischen Gemeinde von Berlin, Sigmount Köngisberg, unterstreicht, das sei kein Einzelfall und auch nicht neu. «Solche Vorfälle haben wir schon immer gehabt. Seit 2006 mussten wir an unserer jüdischen Schule jedes Jahr Schülerinnen und Schüler aufnehmen, die von ihren Grundschulen buchstäblich weggemobbt wurden.»

Erst seit Kurzem ist Antisemitismus in der Schule in der Öffentlichkeit ein Thema. Erst seit drei Jahren gibt es dazu Untersuchungen.

«Antisemitismus ist nicht das Problem der Jugendlichen», sagt die Psychologin Marina Chernivsky, die sich in verschiedenen Organisationen gegen den Antisemitismus engagiert: «Jugendliche machen ihn nach.»

Vielleicht habe Deutschland seine Vergangenheit eben doch nicht so gut aufgearbeitet, vermutet Chernivsky.

Verzerrte Erinnerungen

Deutschland wird zwar für eine vorbildliche Aufarbeitung des Holocaust gerühmt. Aber vielleicht hat man sich in den vergangenen Jahren tatsächlich zu sehr auf den Lorbeeren ausgeruht.

Eine Studie aus dem Jahr 2018 zeigt eine verdrehte Wahrnehmung in der deutschen Bevölkerung. Eine Mehrheit sagt, in ihren Familien habe es keine Täter gegeben, sondern Opfer. Und 18 Prozent behaupteten, ihre Familien hätten während des Zweiten Weltkriegs Juden in Deutschland vor Verfolgung und Tod gerettet.

Wenn man das auf die damalige Bevölkerung Deutschlands hochrechnet, dann wären auf jeden der 500’000 Juden in Deutschland 22 deutsche Helfer gekommen. Aber so war es wirklich nicht.

Wo sind unsere Koffer?

Der Anschlag von Halle war für viele Juden keine Überraschung. Das aggressivere Klima beobachten sie seit Jahren – in Deutschland und in der Welt.

Der Gazakrieg 2014 sei die Zäsur gewesen. Es kam zu Demonstrationen, an denen, zum Beispiel in Berlin, «Hamas, Hamas – Juden ins Gas» gerufen wurde. Die Flüchtlingskrise 2015/16 habe Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft getriggert. Aber auch die russische Annexion der Krim oder der Regierungsstil von Präsident Trump seien Ausdruck dieser zunehmenden Aggressivität.

Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg galt der Satz, dass die Juden in Deutschland «auf gepackten Koffern sitzen». Inzwischen haben sie – bildlich gesprochen – die Koffer längst ausgepackt. Noch ist ein Exodus kein Thema, aber viele Juden fragen sich heute: «Wo sind eigentlich unsere Koffer, für den Fall, dass wir sie packen wollen?»