Jenische, Sinti und Roma sind durch Corona mehrfach getroffen

Neue Zürcher Zeitung.

Die Einkommen der Fahrenden sind weggebrochen – Politiker instrumentalisieren rassistische Stereotype

«Die Corona-Krise war ein Test, wo wir Fahrenden in der Schweiz stehen», sagt Daniel Huber, der Präsident der Radgenossenschaft. Das Jahr hatte zunächst gut begonnen für Jenische, Sinti und Roma. Im Februar hat das Berner Stimmvolk nach einem gehässigen Abstimmungskampf überraschend dem Transitplatz Wileroltigen für ausländische Fahrende zugestimmt. In einer repräsentativen Umfrage des Bundes zeigt eine Mehrheit der Befragten eine positive Einstellung gegenüber der fahrenden Lebensweise. Ein Ausrufezeichen setzte zudem das Bundesgericht, als es im April mehrere umstrittene Artikel des neuen Berner Polizeigesetzes aufhob («Lex Fahrende»). Die Gesellschaft für bedrohte Völker bezeichnete den Entscheid als «Präzedenzfall gegen diskriminierende Sondergesetze» – und als «Bekenntnis für den Minderheitenschutz in der Schweiz».

Dann kam Corona. Die Krise hat die Bevölkerung unterschiedlich hart getroffen. Wie vielen Selbständigen brachen auch den Fahrenden die Einnahmen weg. Das Haustürgeschäft war zwar offiziell weiterhin erlaubt – ausser im Kanton Neuenburg, der das Hausieren explizit verbot. «Doch die Leute öffneten die Türen nicht mehr, weil sie Angst vor einer Ansteckung hatten», sagt Fino Winter, Präsident von Sinti Schweiz und selbst Fahrender. Dies sei verständlich gewesen, sie selber hätten ja auch Angst vor dem Virus gehabt. Nicht nur Messer- und Scherenschleifer oder Bürstenmacher gehen für ihre Geschäfte von Haus zu Haus. Auch wer malt, baut oder Gartenarbeiten anbietet, ist für Aufträge auf den Kontakt vor der Haustüre angewiesen.

Winter ist der klassische Fahrende. Er überwintert auf einem Standplatz in Bern. Ab Frühling geht er mit seinem Gespann auf Achse. Doch heuer ist er wegen Corona nicht losgefahren. Normalerweise reist er in andere Regionen der Schweiz – der Arbeit nach. Doch in diesem Jahr hätte dies nichts gebracht. Winter gehört zu den rund 3000 Jenischen und Sinti in der Schweiz, die eine fahrende Lebensweise pflegen. Die meisten der rund 35 000 Jenischen und Sinti sind sesshaft.

«Wohin willst du fahren?»

Winter sagt, das Vertrauen in die Behörden habe stark gelitten. Mit der einen Hand schmiere man den Jenischen und Sinti Honig um den Mund und anerkenne sie als Minderheit, mit der anderen mache man sie kaputt. Es begann mit den Plätzen. Um die Abstandsregeln einhalten zu können, waren die Fahrenden auf zusätzliche Flächen angewiesen. Passiert sei das Gegenteil, sagt Huber. Es seien Plätze geschlossen und eingeschränkt worden. Dabei hat die Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende zusammen mit dem Bund den Kantonen und Gemeinden empfohlen, trotz Corona Plätze offen zu halten. Bei Bedarf sollen sie temporäre Halteplätze bereitstellen, etwa auf Parkplätzen von ungenutzten Schwimmbädern oder Sportanlagen. Das Bundesamt für Gesundheit und das Seco haben eigens ein Schutzkonzept erarbeitet für die offiziellen Halteplätze der Jenischen, Sinti und Roma. Die Platzbetreiber wurden aufgerufen, genügend sanitäre Anlagen bereitzustellen und die Plätze regelmässig zu reinigen. Diese sind oft bescheiden ausgestattet, bloss mit einigen TOI TOI und einer Säule mit Frischwasser.

Das seit Jahrzehnten ungelöste Problem der fehlenden Plätze für Fahrende hat sich während der Corona-Krise nicht auf wundersame Weise gelöst. Im Gegenteil: Die Gemeinden hätten sich weitgehend nicht an den Aufruf gehalten, die Winterplätze länger offen zu halten, sagt der jenische Historiker Venanz Nobel. Es gab aber Ausnahmen. Die Städte Basel und Zürich zum Beispiel hätten die Vorgaben des Bundes umgesetzt. Viele Fahrende mussten also ihr Winterdomizil verlassen. Zugleich waren im ganzen Land weniger Durchgangsplätze offen. Das führte dazu, dass das Einhalten der Distanzregeln auf den verbliebenen Plätzen schwieriger wurde. «Wohin willst du fahren, wenn keine Plätze verfügbar sind», sagt Huber. Auch er fühlt sich mit seiner Gemeinschaft im Stich gelassen.

Wegen der Pandemie funktioniert das Geschäftsmodell der Fahrenden nicht mehr. Wie viele sesshafte Selbständigerwerbende waren sie auf Unterstützung angewiesen. Allerdings gab es zahlreiche Hürden, wie beispielsweise einen Mindestumsatz von 10 000 Franken jährlich und die Eingabe einer Buchhaltung. Die Stiftung Zukunft Fahrende Schweiz hat zusammen mit der Caritas und mit Geldern der Glückskette ein Nothilfeprogramm aufgestellt. Neben der Beratung hat sie selbständige Jenische, Sinti und Roma einmalig mit Einkaufsgutscheinen unterstützt. Sie können auch eine finanzielle Überbrückung beantragen. Insgesamt stehen 300 000 Franken zur Verfügung. So gut es geht, hilft man sich auch untereinander. Teilweise haben Platzbetreiber die Standgebühren auf das Minimum reduziert.

Fallstricke auf dem Sozialamt

Für einige wurde der Gang auf das Sozialamt unumgänglich. Doch auch beim Bezug von Sozialhilfe warten Fallstricke. Häufig anerkennen Gemeinden die Leasingraten für Wohnwagen nicht als Wohnauslagen. Wenn aber nur die Platzmiete zu den Mietkosten gezählt wird, erhalten die Fahrenden nicht genügend Sozialhilfe, um ihre Auslagen zu decken.

Zusätzlich zu den Existenzängsten und den mangelnden Plätzen sehen sich Jenische, Sinti und Roma in der Corona-Krise mit einem weiteren schmerzhaften Thema konfrontiert: den Vorurteilen. «In Krisen blühen leider sämtliche Rassismen auf», sagt Nobel. So seien auch international die alten Vorurteile wieder voll durchgebrochen. In der Slowakei sah die Regierung die Roma-Minderheit als Seuchenherd und riegelte fünf Siedlungen ab. Der Ministerpräsident behauptete, die Übertragungsrate sei unter Roma zehnmal höher als im Rest der Bevölkerung, ohne wissenschaftliche Grundlagen zu liefern. Die Brunnenvergifter-These sei schnell zu Hand, sagt Nobel. So sei behauptet worden, dass ein Roma aus Italien das Virus nach Nordspanien gebracht habe.

In der Schweiz wurde die Einreise von Fahrenden aus Frankreich Ende Mai instrumentalisiert, um Stimmung gegen die Minderheit zu machen. Sie hielten sich auf einem für Fahrende vorgesehenen Platz in Martigny auf. Mit einer gültigen Aufenthaltsbewilligung waren Grenzübertritte auch während des Corona-Regimes zulässig. Dass sich die lokale Bevölkerung während einer Pandemie Fragen zu den Reisenden aus Frankreich stellt, ist nachvollziehbar.

Eine andere Sache ist es, wenn Parteien daraus politisches Kapital schlagen wollen. Die Walliser SVP behauptete, der illegale Grenzübertritt zeige einmal mehr, dass die Fahrenden in der Schweiz von Straffreiheit profitierten. Der Präsident der Jungen SVP Unterwallis bezeichnete in einem Communiqué die Fahrenden als «Schmarotzer» und verglich sie mit Wölfen. Ein SVP-Grossrat forderte mit einer Petition, den Durchgangsplatz in Martigny zu schliessen. Die Medien waren teilweise wenig kritisch und haben die Pauschalierungen weiterverbreitet. Nobel sagt: «Wenn die Feindseligkeit in Krisenzeiten so offensichtlich zutage tritt, ist sie im Alltag nur unter einem dünnen Mäntelchen versteckt.»

Dabei geht es nicht darum, dass Probleme wie Lärm oder Dreck konkret benannt werden, wenn sie auf einem Platz auftreten. Doch in diesen Fällen werden nicht die Betroffenen kritisiert, sondern pauschal alle Fahrenden in den gleichen Topf geworfen. Darunter leiden auch die Jenischen, Sinti und Roma in der Schweiz. Die SVP Waadt fragt provokativ, ob die ausländischen Fahrenden denn über dem Gesetz stünden. Dabei blendet sie aus, dass der Grossteil der versuchten Einreisen von Fahrenden an der Grenze verhindert wurde, wie es bei der Zollverwaltung heisst. Simon Röthlisberger, Direktor der Stiftung Zukunft Fahrende Schweiz, sagt: «Der verbale Angriff auf eine verletzliche Minderheit schwächt den Zusammenhalt der Gesellschaft.»

Bevölkerung weiss wenig

Die noch vor Corona durchgeführte Umfrage des Bundes ergab, dass die Mehrheit der Bevölkerung der fahrenden Lebensweise und den Minderheiten der Jenischen, Sinti und Roma insgesamt zwar positiv gegenübersteht. Allerdings waren auch rassistische Stereotypen erkennbar, wonach etwa Fahrende den Ruf hätten, Diebe zu sein und die Plätze in schlechtem Zustand zu hinterlassen.

«Den Rassismus können wir auf lange Sicht bekämpfen, wenn die Leute mehr über die Kultur der Jenischen, Sinti und Roma wissen», sagt Nobel. Es sei deshalb wichtig, dass das Thema in den allgemeinen Lehrplan für die Schulen aufgenommen werde.

Die längerfristigen Folgen der Pandemie für die Fahrenden sind schwierig abzuschätzen. Venanz Nobel teilt nicht die Befürchtung, dass die Pandemie den prägenden Teil der Kultur – das Fahren – auslöschen könnte. Aber für ältere Jenische und Sinti, die jetzt aus der Not heraus in eine Wohnung hätten ziehen müssen, sei es schwierig, das Reisen wieder aufzunehmen. Den Jungen fehlten dann die Begleitung und die Erfahrung der Eltern.