«Viele denken heute wieder an die Flucht»

Basler Zeitung: Mit ihrer Stiftung hilft die Schweizerin Anita Winter Holocaust-Opfern in Armut

BaZ:

Anita Winter, der Name Ihrer Stiftung irritiert, was verbirgt sich hinter dem Namen Gamaraal?

Anita Winter: Der Name setzt sich aus den Anfangsbuchstaben meiner vier Kinder zusammen. Es ist ein Zeichen dafür, dass es ein Projekt ist, das nicht mit dem letzten Holocaust-­Überlebenden sterben wird. Es ist wichtig, künftige Völkermorde zu verhindern, unserer Jugend zu vermitteln, was es zu tun gilt. Ich habe unglaublichen Respekt vor dem Thema.

Inwiefern?

Es ist mir eine Herzensangelegenheit. Der Holocaust darf nicht vergessen gehen. Meine Eltern überlebten den Krieg. Sie sollten Teil der Endlösung werden, die das jüdische Volk aus­löschen sollte. Wäre der Plan der Nazis vollständig ausgeführt worden, würde ich heute nicht vor Ihnen sitzen. Mein Vater erlebte als Jugend­licher die Reichskristallnacht. Er flüchtete in die Schweiz zu seinem Onkel. Die Schweizer Behörden wollten ihn aber 1940 ausweisen. Er erhielt einen Brief, in dem es hiess, dass er innert 24 Stunden ausreisen müsste. Sein Onkel intervenierte bei einem guten Freund, dem damaligen FDP-Bundesrat Baumann. Und so durfte mein Vater in der Schweiz bleiben. Eine Rückweisung hätte den sicheren Tod bedeutet. Und meine Mutter wurde aus Nürnberg mit einem der ersten Deportationszüge von Frauen und Kindern deportiert. Doch sie konnte vom Transport fliehen und überlebte unter einer falschen Identität, zeitweise als vermeintlich katholisches Waisenmädchen in einem französischen Kloster.

War dies der Grund, weswegen Sie die Stiftung gegründet haben?

Nein. Auslöser war ein Gespräch mit dem israelischen Sozialminister im Jahr 2012. Wir kamen ins Gespräch. Ich fragte ihn, was man seit der Staatsgründung von Israel 1948 in sozialen Anliegen hätte besser machen können für die Überlebenden. Und er sagte, dass das Leid der Überlebenden den damaligen Staatsgründern und auch noch lange danach unbekannt gewesen ist. Heute leben weltweit etwa 500 000 Holocaust-Überlebende in Armut. Es ist der letzte Moment, um diesen Menschen zu helfen.

Waren Ihnen diese Zustände bewusst?

Nein. Ich stelle die Gegenfrage: War es Ihnen bisher bewusst, dass es verarmte Holocaust-Überlebende gibt?

Nein. Das ist ein Gedanke, der einem nicht direkt in den Sinn kommt, wenn man an den Holocaust denkt.

Viele Holocaust-Überlebende verschwanden in der Anonymität. Das darf aber keine Entschuldigung dafür sein, dass so wenig getan wurde. Aber viele von ihnen sprachen nie oder erst Jahrzehnte nach dem Krieg über ihre Erlebnisse. Viele Holocaust-Überlebende wollen anonym bleiben, behalten ihre Erlebnisse bis heute für sich. Das Schweigen zu brechen, ist für sie unglaublich schwer. Das Umfeld weiss häufig nicht, dass jemand den Holocaust überlebte, geschweige denn wie. Die eigenen Familien wissen es häufig nicht, wie kann es dann ein Aussenstehender wissen?

Was hat das für Gründe?

Viele Überlebende haben Angst vor Antisemitismus, fürchten, dass sie abermals Opfer einer solchen Verfolgung werden könnten. Ihr Vertrauen in die Menschheit wurde zerstört. Andere verdrängten das ihnen zugefügte Leid oder wollten ihr Umfeld nicht damit belasten. Wiederum andere schlossen mit ihrer jüdischen Identität ab. Viele Juden konzentrierten sich nach dem Krieg auf ein neues Leben, auf den Aufbau einer neuen Familie, auf das Ersetzen ihrer Vergangenheit. Einige wurden sehr erfolgreich, viele verarmten. Letztlich war und ist es von Land zu Land und von Mensch zu Mensch unterschiedlich.

Wie war es in anderen Ländern?

Im Ostblock interessierten sich die Staaten und Hilfswerke, wenn es denn überhaupt welche gab, nicht für Holocaust-Überlebende. In Israel wiederum gibt es viele Holocaust-Über­lebende, die sich vor ihren Kindern und Enkeln genieren, zuzugeben, dass sie Holocaust-Überlebende sind.

Wieso schämen sie sich?

Viele genieren sich für die erlittenen Erniedrigungen und Demütigungen. Vor allem Überlebende in Israel genieren sich häufig dafür, dass sie sich nicht gewehrt haben – auch wenn das objektiv nicht möglich war. Bis auf einige Aufstände in Gettos und Konzentrationslagern wurden Juden abgeschlachtet. Die Söhne, Töchter und Enkel dieser Überlebenden jedoch verteidigten ihre neue Heimat Israel in mehreren Kriegen. Holocaust-Überlebende tragen einen stillen Schmerz in sich. Er keimt häufig erst auf, wenn sie betagt sind, nicht mehr arbeiten, Zeit haben, nachzudenken.

Wie äussert sich dieser stille Schmerz?

1945 endete der Krieg nicht für diese Menschen. Viele Überlebende hatten niemanden, waren und fühlten sich ganz alleine auf der Welt. Von denjenigen, die heute noch leben, sind etwa die Hälfte armutsbetroffen. Als Zeichen der Solidarität leistet die Stiftung deshalb finanzielle Zuwendungen an den drei jüdischen Feiertagen Rosch ha-Schana, Pessach und Chanukka: Die Stiftung erhält jeweils zahlreiche Briefe von Überlebenden, aus denen die tiefe Dankbarkeit der Empfänger ersichtlich wird, aber eben leider auch der nach wie vor vorhandene Schmerz über das Erlebte und Gefühle der Einsamkeit.

Was schreiben die Überlebenden in ihren Briefen?

Einige bedanken sich, andere schreiben Dinge, die mich jeweils sehr erschüttern. Eine Überlebende hat mir kürzlich geschrieben, dass der schlimmste Tag ihres Lebens der Tag der Befreiung durch die Amerikaner war. Sie schrieb, dass sie an jenem Tag realisierte, dass sie ganz allein auf dieser Welt war. Ihre ganze Familie wurde ermordet. Das hat mich sehr berührt. Andere Überlebende bringen Schuldgefühle zum Ausdruck: das Gefühl, schuldig zu sein, dass man noch am Leben ist, dass man gerettet wurde oder überleben konnte, während Millionen andere Menschen nicht überleben durften. Das sind Emotionen, die wir nicht nachvollziehen können. Aber wir können versuchen zu helfen, diese zu bewältigen.

Die Aufarbeitung des Holocaust begann in Europa in den Sechzigern. Wieso wurde den Holocaust-Überlebenden, die in Armut gerieten, nicht schon damals geholfen? Wieso wurde erst so spät damit angefangen, Geld zu sammeln?

Es ist offensichtlich, dass man sich während Jahrzehnten vor allem mit der historischen, soziologischen und juristischen Aufarbeitung des Holocaust befasste. Bis heute setzen sich Menschen damit auseinander, wie der Holocaust passieren konnte. Es gibt zu diesem Thema Tausende Bücher, Wissenschaftler forschen seit Jahrzehnten. Trotzdem leugnen Antisemiten bis heute die Existenz des Holocaust. Deshalb sind Lehre und Aufklärung so wichtig. Der Holocaust der Nazis ist mit keiner anderen von Menschen verantworteten Katastrophe vergleichbar. Er ist einmalig und hat deshalb einen universellen Charakter. Dabei dürfen wir nicht vergessen: Diese Katastrophe betrifft nicht nur Juden – auch Roma, Sinti, Homosexuelle, Behinderte, Zeugen Jehovas und Andersdenkende wurden systematisch ermordet.

Aber es wäre doch möglich gewesen, den Überlebenden früher Hilfsgelder zukommen zu lassen, insbesondere den in Altersarmut geratenen. Welche Fehler wurden da von wem begangen?

Verschiedene Regierungen, vor allem natürlich jene Deutschlands, tun sehr viel, keine Frage. Dennoch hat sich die Nachkriegsgeneration vielleicht zu sehr darauf konzentriert, aufzuarbeiten, und dabei völlig ausser Acht gelassen, dass es doch noch Überlebende gibt, die auch Hilfe benötigen. Die Aufarbeitung ist zweifelsohne sehr wichtig. Doch die Überlebenden sind mindestens genauso wichtig. Es darf ohne Weiteres ein Vorwurf an meine Generation gerichtet werden, an die Kinder der Täter und der Opfer. Viele von uns hatten Angst, unsere Eltern mit Fragen über ihre Vergangenheit zu verletzen. Andererseits wollten viele Kinder von Tätern nicht mit der Realität konfrontiert werden, dass sich in ihrer Familie unter Umständen Schuldige befanden. Dann wiederum wollten unsere Eltern uns, die Kinder, nicht mit ihren Erlebnissen belasten. Viele Holocaust-­Überlebende sind auch der Meinung, bis heute übrigens, dass ihre Geschichte niemanden interessiert. Wir befinden uns historisch betrachtet in einer Zeit des Übergangs: Wir können jetzt helfen – oder nie mehr. Mit den letzten Überlebenden sterben auch die letzten Zeitzeugen.

Der Antisemitismus ist in Europa wieder aktuell. Judenhass unter dem Deckmantel der Israel-Kritik, offener Antisemitismus von links und rechts und muslimischer Antisemitismus werden zunehmend salonfähig oder sind es längst.

Einige Überlebende schreiben mir in ihren Briefen, dass sie sich an die Zeit von 1930 erinnert fühlen. Die Leute, die 1930 erlebten, haben Angst, den richtigen Zeitpunkt zu verpassen, um flüchten zu können.

Holocaust-Überlebende denken heute wieder an Flucht?

Viele Holocaust-Überlebende haben das – ungeachtet der politischen Situation – wohl immer im Kopf. Die Kriegszeit hat sie geprägt, sie werden das Angstgefühl nie mehr los. Die Menschen, die wir unterstützen, wiederholen immer wieder: «Es war damals genauso wie heute.» Jemand, der erlebte, wie alles zusammenfällt, jemand, der einen Genozid persönlich miterlebte, jemand, der erlebte, wie seine gesamte Generation, seine ganze Familie vernichtet wurde, manchmal sogar vor seinen Augen, wird immer daran denken, dass so etwas wieder passieren kann.

Von der Modefirma zu den Hilfsgeldern

Zürich. Anita Winter wurde 1962 in Zürich geboren. Sie wuchs in Baden in einer jüdischen Familie auf. Ihre Eltern überlebten beide den Holocaust. 1989 gründete Anita Winter ihre eigene Modefirma. Im Jahr 2014 gründete die HSG-Absolventin die Stiftung Gamaraal, die für Holocaust-Überlebende in Existenznot Hilfs­gelder sammelt. Sie hat Mandate mehrerer internationaler Organisationen und repräsentiert die grösste jüdische humanitäre NGO, B’nai B’rith International, beim UNO-Menschenrechtsrat. Winter lebt mit ihrer Familie in Zürich.

dws