Spuren dunkler Geschichte im Stadtbild

St. Galler Tagblatt. «Dark History»: Die jüngsten Proteste gegen Rassismus bezeugen die notwendige Arbeit des St.Galler Sklavereiforschers Hans Fässler.

Ist das rassistisch? Muss es weg? Die Frage stellt sich vor dem «Haus zum Mohrenkopf» an der St.Galler Spisergasse. Der schwarze Frauenkopf über dem Erker weist mit wulstigen Lippen, breiter Nase und goldenen Ohrringen sowie Perlenkette stereotype Merkmale von «Anderen» auf. Die Darstellung entspricht der aktuellen Debatte um die Mohrenköpfe der Firma Dubler oder die Mohren-Symbole einer Vorarlberger Brauerei und einer Berner Zunft.

Die Empörung in der Gruppe, die am Stadtrundgang von Hans Fässler auf den «Spuren des Rassismus» teilnimmt, hält sich in Grenzen. Was in der kühlen Erklärung des Historikers begründet liegt, wonach man wenig über das Haus und seinen 1625 angebrachten Erker wisse. Während Jugendliche auf eine Prinzessin getippt hätten, sehen lokale Historiker im «Mohrenkopf» keine Frau, sondern den Heiligen Mauritius. Wahrscheinlicher ist die Interpretation, wonach die protestantischen Hausbesitzer mit dem exotischen Schmuck ihren Einfluss demonstrieren wollten. Die schwierige Frage, ob der Kopf aus dem öffentlichen Raum verbannt oder mit einer Tafel erklärt werden muss, bleibt vorläufig offen.

Plantagen in Amerika oder Asien mit Sklaven in St.Galler Besitz

Die Mohrenkopf-Debatte dürfe stattfinden, sagt Fässler, doch weitaus mehr interessiere ihn «strikt marxistisch der ökonomische Unterbau» des Rassismus, wie er auf dem Rundgang mit 13 Stationen erklärt. Wenige Häuser westlich skizziert er am «Haus zur Flasche» der Familie Högger die Verstrickungen des Bürgertums mit der Sklaverei: Acht Plantagen in Übersee sind heute bekannt, die samt Sklavinnen und Slaven im 18. Jahrhundert in St.Galler Besitz waren. Die Höggers, Rietmanns, Schlumpfs, Zollikofers, Züblins oder Kunklers, alles im städtischen Leben bedeutende Familien, besassen Plantagen für Zucker, Kaffee, Baumwolle oder Reis in Surinam, Berbice (Guyana) und in Georgia (USA). Erschaudern lässt ein minimaler Hinweis Fässlers: In einem digitalisierten Archiv der Menschen auf einer dieser Plantagen entschlüsselte er den altholländischen Vermerk bei der Sklavin Nummer 25 namens «Venus» (wie üblich ohne Nachname) – «ohne Nase». Was auf die Strafe nach einem Fluchtversuch hindeute: Männern wurde ein Fuss oder Bein abgeschnitten, Frauen die Nase. Sklaverei bedeute die «Vernichtung des Menschen», wie der Aufklärer Peter Scheitlin schrieb. Dessen Büste im Kantipärkli Burggraben gehört zu den positiven Gedenkstätten des Rundgangs.

«Nichts gegen Vadian», aber alles für die offene Debatte

An weiteren Orten erzählt Fässler vom St.Galler Bankier und Helvetia-Versicherungsgründer Jakob Laurenz Gsell, der in den 1840er-Jahren in Brasilien zum Millionär wurde und mehrere Haussklaven besass (und eigenhändig auspeitschte); und vom ersten Sklavenhändler der Eidgenossenschaft, Hieronymus Sailer, der aus der St.Galler Kaufmannsfamilie Sailer stammte, deren Wappen am Berufsschulgebäude an der Kugelgasse prangt. Aufgrund der mutmasslichen Verwandtschaft Sailers mit dem St.Galler Reformator beginnt Fässlers Tour beim Vadian-Denkmal. Aber «nichts gegen Vadian», schmunzelt der pensionierte Kantilehrer, er sei «kein Denkmalstürzer», auch wenn jetzt Anleitungen kursierten, wie Unehrenmänner vom Sockel gestürzt werden können. Seit dem Mord an George Floyd und den dadurch ausgelösten Protesten ist der St.Galler Historiker eine gefragte Auskunftsperson. Seit 20 Jahren beschäftigt er sich mit der hiesigen Beteiligung an Rassismus, Sklaverei und Kolonialismus, 2005 hat er sein Buch «Reise in Schwarz-Weiss. Schweizer Ortstermine in Sachen Sklaverei» publiziert, das wieder vermehrt gelesen wird. Die Debatte habe «eine bisher unvorstellbare Breite und Intensität bekommen», sagt er. «Niemand will auf einen Zug oder Hype aufspringen. Aber wir können alle dafür sorgen, dass Brother George nicht umsonst gestorben ist.» Fässler ist als Rassismusforscher ein beharrlicher Dauerläufer, um die afrodeutsche Journalistin Ciani-Sophia Hoeder zu zitieren: «Rassismus wird man nicht mit einem Wisch auf dem Smartphone los. Es ist ein Marathonlauf.» Seit zwei Jahren forscht er wieder an den Schweizer Verwicklungen in der Karibik und füttert sein digitales Archiv «Caricom Compilation»; im Winter 2018 drängte er aufgrund eines Sklavenprofiteurs aus der Trogener Zellweger-Dynastie auf die Aufarbeitung der Sklavereigeschichte der UBS und ihrer Vorläuferbank; im Herbst 2019 gründete er ein Komitee für Reparationszahlungen an Sklaverei-Nachkommen. Mit einer offenen Debatte sei schon viel gewonnen, meint er.

Notwendige Bewusstseinsarbeit und Stoff für die Schule

Die Rundgänge zur «Dark History» St.Gallens sind auf 24 Stationen erweitert worden. Dabei finden sich immer wieder neue Spuren – die Maestrani-Geschichte, die nach dem rassistischen Pfarrer Lavater benannte Strasse oder jüngere rassistische Vorfälle wie die Skinheadüberfälle auf den früheren African Club im Linsebüel, die im Jahr 2000 zu einer Massenschlägerei mit skandalösem Polizeikommentar («Es tönte wie im Urwald») führten, noch nicht aufgenommen. Nebst der Versklavung von elf Millionen Menschen aus Afrika und dem Anti-Schwarzen-Rassismus gilt Fässlers Tour dem Antisemitismus sowie dem Antiziganismus. Freilich führten die dunklen Spuren über die Region hinaus: Anhand der Zellweger-Paläste in Trogen oder dem Stammschloss der Zollikofer in Altenklingen (wie auch ihre Sklavenplantage hiess) liessen sich die Sklavenhandelverstrickungen ebenso in Ausserrhoden oder im Thurgau erzählen. Zwingende Umbenennungen von Denkmälern oder Orten in der Ostschweiz, wie es 2009 die Paul-Krügerstrasse in St.Gallen verlangte, sieht Fässler nicht. «Ich bin kein Umbenennungsfreak, der die Welt durchreist auf der Suche nach Orten, die man umbenennen könnte. Die Rassisten Krüger und Agassiz sind besonders krasse Fälle, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Apartheid, Sklaverei, Nationalsozialismus) vordachten und darum keinen Erinnerungsort verdienen.» Ein ähnlich gelagerter Fall sei allenfalls der als roter Platz bekannte Raiffeisenplatz, der in Sichtweite der Synagoge den Namen des fanatischen Antisemiten Karl Raiffeisen trägt. Die Bankleitung hat in Aussicht gestellt, den antisemitischen Aspekt ihrer Gründungsgeschichte zu beleuchten.

Wie viel Bewusstseinsarbeit noch zu leisten ist, offenbaren Kommentare auf jüngste Interviews Fässlers mit Wiedergutmachungsanspruch. Dutzende empörte «Blick»-Leser stellen krude historische Vergleiche mit angeblichem Unrecht der Eidgenossen an, die an den Ausblick Fässlers im Buch von 2005 erinnern. Unter dem Titel «Die Schlacht bei Vögelinsegg» befasst er sich da mit dem Widerstand der SVP und bürgerlicher Kantonsräte gegen den Lotteriefondsbeitrag. Zwar wird die Schweizer Beteiligung an der Sklaverei in manchen Schulen und in der Lehrerausbildung thematisiert, etwa mit dem Luzerner Lehrmittel «Fremde Bilder». Die SP wird in der Septembersession einen Vorstoss zu Kolonial- und Sklavereigeschichte an St.Galler Schulen einreichen und den Regierungsrat auffordern, die entsprechenden Verwicklungen von Schweizer Akteuren in die Lehrpläne aller Stufen aufzunehmen. Augen öffnen, Bewusstsein schärfen: Am «Haus zum Mohrenkopf» hängt in einem Fenster unter dem strittigen Erker eine Flagge für die Konzernverantwortungs-Initiative – als wär’s ein Kommentar zur Lehre für die Gegenwart, die man aus der globalen Geschichte der Textilmetropole ziehen müsste.


Kanton St.Gallen gegen Rassismus

Kampagne Der Kanton St.Gallen hat seine Bemühungen gegen Rassismus verstärkt. Das belegt die Website des Kompetenzzentrums Integration und Gleichstellung im Amt für Soziales, auf der auch die Stadtrundgänge mit Hans Fässler angeboten und mit Materialien erklärt werden. Die Rundgänge wurden 2019 und 2020 (kurz vor dem Lockdown) für die Mitarbeitenden der Kantonsverwaltung angeboten und nun auch für die breite Bevölkerung zugänglich gemacht. Die kantonale Integrationsförderung im Departement des Innern setze sich seit längerem mit den Themen Rassismus und Diskriminierung auseinander, erklärt Projektleiter Srdjan Dragojevic. Dazu gehört eine zusammen mit der gleichnamigen Heks-Fachstelle angebotene Beratung. Aufgrund der aktuellen Anti-Rassismus-Debatte und «aufbauend auf den guten Erfahrungen» lanciert das Kompetenzzentrum anstelle der Ende März coronabedingt ausgefallenen Aktionstage gegen Rassismus das Sensibilisierungsprojekt «Kanton St.Gallen gegen Rassismus». An der kantonsweiten Kampagne mit Plakaten, Veranstaltungen und Online-Interaktionen beteiligen sich zahlreiche Städte und Gemeinden. «Um möglichst viele und unterschiedliche Beispiele von strukturellem und Alltagsrassismus aufzeigen zu können», rufen die Behörden auf der Website Betroffene (und Nichtbetroffene) auf, ihre Erfahrungen zu teilen. Die neue Sozialdirektorin Laura Bucher (SP) wird das Thema mit Ortsbesuchen begleiten: Der Auftakt zur Reihe ist morgen Mittwoch in Rheineck, wo die Regierungsrätin mit den Fussballclub-Junioren über Rassismus im Alltag sprechen wird. (mel)