«Rasante Radikalisierung»

Saiten.ch

Rechtsextreme Strukturen, blutendes Zahnfleisch und eine zaghafte Linke: Kurt* aus St.Gallen begleitet die Demos der Coronamassnahmen-Gegner:innen in der Schweiz fast seit Beginn der Pandemie mit seiner Kamera. Im Interview blickt er auf seine Recherchen zurück.

Saiten: Gefühlt jedes Wochenende eine andere Coronademo – warum tust du dir das an?

Kurt: Zwei Personen aus meinem Familienumfeld arbeiten im Gesundheitswesen und wurden am Anfang der Pandemie zum Dienst auf die Covid-Intensivstation beordert. Ich habe die Situation damals hautnah miterlebt. Zum andern fand im November 2020 ein sogenannter «Stiller Protest» der Massnahmengegner:innen in St.Gallen statt, zu dem auch Rechtsextreme aus der Ostschweiz aufgerufen hatten. Die linke Gegendemo wurde von der Polizei niedergeknüppelt, die Massnahmengegner:innen hingegen, die grösstenteils keine Maske getragen haben, hat man einfach machen lassen. Ich recherchiere schon länger über rechte Strukturen in der Ostschweiz und wollte wissen: Was ist das für eine Bewegung? Wer läuft da mit? So hat es angefangen.

Dein Fokus liegt auf der Ostschweiz, du gehst aber auch auf Demos in anderen Schweizer Städten und hast dich mit andern Journalist:innen und Fotograf:innen vernetzt. Wie ist die Stimmung euch gegenüber?

Am Anfang war die Stimmung noch recht friedlich, viele wollten mit uns diskutieren. Aber die Situation hat sich von Demo zu Demo zugespitzt. Es gab eine rasante Radikalisierung gegen journalistische Personen, und sie findet immer noch statt. In den Telegram-Chats werden regelmässig Drohungen gegen vermeintlich linke Journalist:innen ausgesprochen, gegen einige läuft eine regelrechte Hetzjagd – bis hin zu Mordaufrufen.

Die Gewalt schwappt auch ins reale Leben über. Im März 2021 wurdest du an einer Demo in Liestal tätlich angegriffen. Was genau ist da passiert?

Ich wollte eine Gruppe von bekannten Neonazis fotografieren, in diesem Moment ist jemand von der Seite auf mich zugerannt und hat mir die Faust ins Gesicht geschlagen. Es war Glück im Unglück: Ein Teil meines Zahns ist abgebrochen und ein Teil meines Zahnfleisches musste entfernt werden, ansonsten hatte ich keine Verletzungen. Ich habe die Person dann angezeigt. Er wurde verurteilt wegen versuchter schwerer Körperverletzung und musste die Spital- und Ambulanzkosten tragen sowie Schadenersatz zahlen.

Kann man die Anzahl der Rechtsextremen unter den Massnahmengegner:innen beziffern?

Jein. Es gibt verschiedene Personen, die durch öffentliche Aussagen aufgefallen oder von rechtsextremen Demos bekannt sind, beispielsweise von der «Jungen Tat», der «Nationalen Aktionsfront» oder vom «Dritten Weg» in Deutschland. Schweizweit sind das schätzungsweise 200 bis 300 Personen, die Dunkelziffer ist sicher höher. Und sie tauchen ja nicht an jeder Demo geschlossen miteinander auf. Ausserdem bewegen wir uns mit unseren Recherchen im legalen Rahmen, wir hacken keine Handys oder so. Eine genaue Zahl zu nennen, ist daher schwierig. Das wäre Aufgabe des Staates – der diesbezüglich leider versagt.

Die Rufe nach härterem staatlichem Durchgreifen an diesen Demos kommen vermehrt auch von linker Seite. Ich kann diesen Repressionsgelüsten nichts abgewinnen. 

Das sehe ich genauso, mehr Repression führt nie zum Ziel. Bussen ausstellen zum Beispiel bringt wenig. Meiner Meinung nach dürfte man diese Demos gar nicht erst stattfinden lassen. Das gesundheitliche Risiko ist viel zu gross und fürs Spitalpersonal ist jede Demo ein Mittelfinger ins Gesicht. Ob man dann mit voller Polizeigewalt eine Demo auflösen soll oder nicht, ist wieder eine andere Diskussion…

Was steht deiner Einschätzung nach im Vordergrund: die Verschwörungsideologien oder die Auflehnung gegen die vermeintliche Bevormundung durch den Staat?

Ich weiss nicht, ob man das so trennen kann. Die Bewegung hat sich ja auch verändert in diesen zwei Jahren. Heute gehen nicht mehr so viele auf die Strasse wie etwa vor der letzten Abstimmung zum Covidgesetz, geblieben ist der harte Kern. Es gibt sicher noch einige Gemässigte, die «nur» gegen die Autorität des Staates marschieren und die Pandemie gar nicht unbedingt leugnen, aber der Grossteil glaubt nicht an wissenschaftliche Fakten, sondern an Verschwörungsmythen aller Art. Das neuste Schlagwort ist beispielsweise «Klimalockdown».

Die «Freunde der Verfassung» oder «Massvoll» waren treibende Kräfte hinter den Demos, inzwischen sind sie zerstritten. Wie schätzt du die Relevanz dieser Organisationen ein?

Politisch gesehen hatten sie nie viel zu sagen. Ihre Macht war eine mediale. In allen grossen Zeitungen sind sie – teilweise unwidersprochen – zu Wort gekommen. Jedes Wochenende wurde berichtet, wenn sie mit ihren Demos wieder eine Stadt buchstäblich lahmgelegt haben. Sie sind zwar zerstritten, aber dadurch nicht weniger besorgniserregend. Vor einem Jahr konnte man noch eine Gesamtbewegung angreifen, heute hat man viele kleine Gruppen, die sich alle unterschiedlich radikalisieren und kaum mehr kontrollieren lassen. Das macht sie gesellschaftspolitisch gefährlich.

Aber sie verlieren doch ihre Daseinsberechtigung, wenn die Pandemie vorüber ist…

Die Bewegung, die Samstag für Samstag durch irgendwelche Städte zieht, wird es dann wohl nicht mehr geben. Aber in den eigenen vier Wänden lebt sie weiter. Viele sind in ihren Verschwörungstheorien gefangen, haben sich mit ihren Familien oder ihrem Freundeskreis so massiv zerstritten, dass es kaum ein Zurück gibt. Das sind zum Teil sehr traurige Geschichten. Und wenn das Umfeld fehlt, steigt die Gefahr einer weiteren Radikalisierung.

Was braucht es, damit diese Menschen gesellschaftlich wieder den Anschluss finden?

Es braucht staatlich geförderte Gefässe, um Menschen, die in Verschwörungstheorien gefangen sind, zu unterstützen. Ähnlich wie «Exit Deutschland» Neonazis beim Ausstieg hilft. Das ist nicht einfach und ein langer Prozess. Die Radikalisierung passiert ja auch nicht von heute auf morgen. Deshalb braucht es professionelle Hilfe.

Hand aufs Herz: Kannst du auch ein Stück weit Verständnis aufbringen für die Massnahmenkritiker:innen?

Definitiv. Ich habe viele bewegende Geschichten gehört auf den Demos in den letzten zwei Jahren. Wenn jemand erzählt, wie er nach 20 Jahren Selbständigkeit bankrott ging und drei Kinder ernähren muss, lässt mich das nicht kalt. Ich verstehe die Kritik am Staat und an den teils unausgegorenen Massnahmen. Was ich nicht verstehe, ist, warum man diese mitten in einer Pandemie an einer Massendemonstration äussern muss – Seite an Seite mit Rechtsextremen und Verschwörungsgläubigen. Hier muss sich auch die Linke an der Nase nehmen: Warum hat sie es so lange nicht geschafft, die Massnahmen aus antikapitalistischer, wissenschaftsbasierter Sicht zu kritisieren? Warum hat sie es zugelassen, dass man vor allem die Wirtschaft am Laufen hält, statt gemeinsam und solidarisch aus der Pandemie zu kommen? Wäre man früher in die Gänge gekommen, wären vielleicht nicht so viele Menschen abgedriftet.

*Name geändert

Dieser Beitrag erscheint im Februarheft von Saiten.