Mutter Courage und ihre Kinder

Die Weltwoche: Sie war eine Ikone der Frauenbewegung und eine unbequeme sozialistische Politikerin. Nun unterstützt Anne-Marie Rey die als extrem verschrieene Ecopop-Initiative. Die Genossen von einst wittern Verrat.  Von Wolfgang Koydl und Sonja Ruckstuhl (Bild)

Wenn man besichtigen will, was Jahrzehnte gedankenlosen Wachstums mit brutaler Zersiedelung und grenzenloser Zuwanderung der Schweiz angetan haben, dann bietet die Berner Schlafsiedlung Zollikofen ein anschauliches Beispiel: Schön sieht anders aus. Falls es einmal einen Dorfkern gegeben haben sollte, ist er längst im Brei ungezügelter Stadtplanung versunken. Wie Brandschutzschneisen wurden viel zu breite Strassen zwischen würfelförmige Bauten gezogen. Auf den ersten Blick weiss man noch nicht einmal, ob sie Schulen, Büros oder Genossenschaftswohnungen beherbergen. Für den einen oder anderen Farbtupfer auf der ansonsten öden Leinwand sorgen lediglich das Rot-Weiss-Grün italienischer Pizzarestaurants oder das orangefarbene Migros-M.

Anne-Marie Rey kehrt dieser Schweiz den Rücken – nicht nur im übertragenen, sondern durchaus auch im buchstäblichen Sinn. Sie wohnt am äussersten Ende von Zollikofen, da, wo das Schild den Ortsausgang markiert. Von der Strasse führen ein paar Stufen hinab zu ihrem schlichten Haus. Das Dorf verschwindet aus den Augen, aus dem Sinn.

Durch die sonnendurchfluteten Fenster geht der Blick hinaus auf eine Bilderbuch-Schweiz: sattgrüne Wiesen, auf denen, wie von einem Malerpinsel hingetupft, buntgescheckte Rinder grasen. Ein, zwei behäbige Berner Bauernhöfe und ein paar Wäldchen runden das Bild ab. Gleichsam den Rahmen für das pastorale Bild formt die Alpenkette am Horizont.

Rey weiss, wie privilegiert diese Wohnlage ist. Und sie weiss auch, dass sich die Entwicklung nicht zurückdrehen lässt, dass man Zollikofen und all die anderen missratenen gesichts- und seelenlosen Siedlungen im Schweizer Siedlungsbrei nicht mehr zurückverwandeln kann in pittoreske Bauerndörfer. Aber sie weiss eben auch, dass sie jeden weiteren Raubbau an der unvergleichlichen Landschaft stoppen muss, damit ihre Enkel und Urenkel nicht eines Tages in einem total zubetonierten Land leben müssen.

Nur nicht die Fassung verlieren

Deshalb hat sich die alte Dame mit ihren 77 Jahren noch einmal in den Kampf gestürzt. Fremd ist ihr die politische Auseinandersetzung nie gewesen. Als «Mutter der Fristenregelung» hat die deutsche Zeit Anne-Marie Rey einmal unfreiwillig komisch tituliert, weil sie es war, die den Kampf für die Straffreiheit der Abtreibung in der Schweiz initiierte und jahrzehntelang vorantrieb. Im März 1970 begann es mit einem Artikel im Berner Bund. Damals, so erinnert sie sich, hatte sie als Frau noch nicht einmal das Wahlrecht.

Im vergangenen Februar musste Rey erneut antreten, weil sie ihr Lebenswerk in Gefahr sah: «Muss das sein?», war ihre Reaktion, als die Initiative «Abtreibungsfinanzierung ist Privatsache» vor die Stimmbürger gelangte. Aber sie hatte schon längst erkannt: «Bei Frauenfragen kann man nicht davon ausgehen, dass einmal errungene Rechte für immer gelten.» Die Vorlage wurde abgeschmettert – auch dank ihres Engagements.

Jetzt wirft sie sich für die Ecopop-Initiative in die Bresche, jenen Vorstoss, der vom Schweizer Establishment noch umfassender und unversöhnlicher abgelehnt wird als im Februar die Masseneinwanderungsinitiative der Schweizerischen Volkspartei. «Extremistisch», «unnütz», «fremdenfeindlich», ja geradezu dumm sei der Vorschlag, Einwanderungsüberschuss in der Eidgenossenschaft jedes Jahr auf lediglich 0,2 Prozent der Wohnbevölkerung zu begrenzen, tönt es unisono von links bis rechts, von Arbeitgebern ebenso wie von Gewerkschaften, von Schweizer und von Ausländerverbänden. Auch der SVP-Führung ist die Vorlage zu einschneidend, ja zu gefährlich – obschon es an ihrer Basis eindeutig Sympathien für die Initiative gibt.

Nicht nur dort, sondern auch in anderen Bevölkerungsschichten scheint man sich für den eigentlich aus linker, grüner Ecke kommenden Vorstoss zu erwärmen. Die Pendlerzeitung 20 Minuten hat an diesem sonnigen Morgen die Nation mit der Schlagzeile aufgeschreckt, dass gut sechs Wochen vor dem Abstimmungstermin am 30. November eine ziemlich deutliche Mehrheit von 53 Prozent der Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger tendenziell ja sagen würden zu dem drastischen Schritt. Der Tages-Anzeiger hält am selben Tag mit einer Berechnung dagegen, dass eine Annahme der Initiative gleichsam den Ruin des gesamten Sozialversicherungswesens bedeuten würde.

Rey hat beide Schlagzeilen gelesen und lässt sich von keiner aus der Fassung bringen. «Umfragen sind zu einem so frühen Zeitpunkt nicht repräsentativ», sagt sie, und sie spricht aus langjähriger politischer Erfahrung. Nach neueren Umfragen liegen in der Tat die Gegner vorne. Und in den immer neuen Untergangsszenarien, die für den Fall einer Annahme der Initiative prophezeit werden, vermag sie nur «Panik, Angst und totale Fehlinformation» erkennen: «Daraus sprechen vorgefasste ideologische Meinungen und Klischees.»

Für Andreas Thommen, den Sekretär des Ecopop-Komitees, ist das Engagement von Rey eminent wichtig: «Eigentlich war sie schon länger nicht mehr aktiv», meint er. «Aber als sie hörte, wie unsere Initiative und unser Komitee systematisch als rechtsextrem verunglimpft wurden, hat sie sich entschlossen, sich wieder einzumischen.» Vor mehr als 40 Jahren gehörte Anne-Marie Rey zu den Mitbegründern von Ecopop, weshalb Thommen sie «unser historisches Gewissen» nennt. Wichtiger für den aktuellen Abstimmungskampf dürfte freilich eine andere Eigenschaft der alten Dame sein, die Thommen hervorhebt: «Nach so vielen Jahren Kampf hat sie ein dickes Fell.»

Das wird sie auch brauchen können, denn so bissig und böse wie jetzt wurde die diplomierte Übersetzerin und Mutter dreier Kinder noch nie attackiert. «Absolut schockierend», findet sie es, «solche Schlammschlachten, Verdrehungen, Verleumdungen, das ist doch unter allem Hund.» Damals, als es um die Fristenregelung ging, seien die Vorwürfe von «Fundamentalisten» gekommen, erinnert sie sich, Ewiggestrigen gewissermassen, die Frauen grundlegende Rechte verweigerten. «Da konnte man mit einem Achselzucken darüber hinweggehen», seufzt Rey. «Aber jetzt kommen die Attacken von Genossinnen und Genossen – und das schmerzt.»

Genau hier liegt die Crux: Rey kommt aus dem linken und dem grünen politischen Lager. Die Frauenrechte waren viele Jahre lang ein Thema, das in erster Linie von «progressiven» Kräften beackert wurde. Rey sass zudem sieben Jahre für die SP im Berner Grossen Rat. Ihre Entscheidung, sich den Sozialdemokraten anzuschliessen, fällte sie übrigens auf einer FDP-Veranstaltung: «Das waren Damen», schrieb sie in ihrer Autobiografie «Die Erzengelmacherin», – «und ich fühlte mich als Frau.»

«Dunkle Wurzeln»

Als Gemeinde- und Kantonspolitikerin setzte sie sich immer für Umweltthemen ein, und auch privat versucht sie ein beispielhaftes grünes Leben zu führen: Warm geduscht wird nur einmal in der Woche («Ich arbeite ja nicht körperlich auf dem Feld»), die Heizung wird auf höchstens neunzehn Grad gedreht, und wenn die Sonne durch die Fenster scheint, wird der Thermostat ganz heruntergedreht. Anne-Marie Rey war eine engagierte Grüne, eine Mutter Courage der Frauenbewegung.

Und nun ist sie angeblich nach rechts gekippt. «Dunkle Wurzeln, die da mitschwingen», hätten ihn bei der Lektüre der Initiative «zum Schaudern» gebracht, lässt sich der grüne Nationalrat Balthasar Glättli vernehmen. Einen «fremdenfeindlichen» Missklang hört SP-Bundesrätin Simonetta Sommaruga heraus. Differenzierter äussert sich der Genfer Intellektuelle Jean Ziegler, der «grossen Respekt» vor dieser «grundehrlichen und konsequenten Frau» bekundet. Aber auch er hält die Ecopop-Initiative für «grundgefährlich».

Viele Verbündete von einst wissen nicht mehr so recht, wie sie mit der Ecopopperin Rey umgehen sollen. Ist das, was sie vertritt, aus ihrer Sicht nicht unendlich viel «fremdenfeindlicher» als die Masseneinwanderungsinitiative der SVP? Im besten Falle naiv, weil sie nicht erkennt, in welche anrüchige Gesellschaft sie sich begibt. Im schlimmsten Falle ist sie eine Verräterin.

Und was ist mit dem zweiten Teil der Ecopop-Vorlage, laut der zehn Prozent der eidgenössischen Entwicklungshilfe in den Empfängerländern zwingend für die Familienplanung eingesetzt werden müssen? «Kolonialistisch» gehört noch zu den minder schweren Vorwürfen. «Absoluter Schwachsinn», findet das Rey. «Es geht um ein grundlegendes Frauenrecht. Ausserdem spart jeder Franken, der in die Familienplanung investiert wird, zwei bis drei Franken anderswo ein.»

Tatsächlich birgt der Vorstoss von Ecopop, an dessen Ausarbeitung Anne-Marie Rey nicht beteiligt war, viele Risiken für die Schweiz, vor allem für die Wirtschaft. Ganze Branchen würden in schwerste Turbulenzen geraten, heisst es, wenn wirklich nur noch – nach derzeitigem Bevölkerungsstand – netto 16 000 Personen pro Jahr zuziehen dürften. Kein Wunder, dass die bürgerlichen Parteien, die Wirtschaftsverbände und die Unternehmen Sturm laufen gegen Ecopop. Aber warum regt sich Links-Grün so auf?

Die historische Schuld der Genossen

«Unsere Initiative könnte die meisten Forderungen aus links-grünen Kreisen umsetzen helfen», gibt sich Anne-Marie Rey überzeugt. «Oder ist Kritik an unbegrenztem Wachstum in einer begrenzten Welt keine urgrüne Forderung?» Sicher, es würden kaum mehr ausländische Firmen in die Schweiz kommen – und ausländische Arbeitskräfte nachholen. «Aber es ist doch viel solidarischer, wenn Arbeitsplätze dort geschaffen werden, wo die Arbeitnehmer leben.»

Wenn man sie so an dem alten, schweren Holztisch in ihrem Wohnzimmer vor dem Fenster mit dem Panoramablick sitzen sieht, käme man nicht auf die Idee, dass so viel Kampfeslust in dieser zierlichen Frau steckt. Dezent ist sie gekleidet, unauffällig elegant. Ton in Ton die braun gemusterte Bluse und der Blazer. Klein ist sie, man mag sie fast übersehen, aber klein ist auch ein Dynamo, der Grosses zu bewegen vermag. Und beim zweiten Blick bemerkt man, dass mit der alten Dame nicht gut Kirschen essen ist, wenn ihr etwas gegen den Strich geht. Ein wenig wirkt sie wie eine pensionierte Gymi-Lehrerin, vor der man immer noch Respekt hat, weil man sich erinnert, dass sie zwar streng, aber zugleich unbestechlich und gerecht war.

Alles in ihrem Haus strahlt bürgerliche Gediegenheit aus. Solide Möbel, ein bisschen altmodisch, ein bisschen antik, aber alle zusammen praktisch. Den Büchern sieht man an, dass sie alle mehrmals gelesen und nicht einfach so ins Regal gestellt wurden. Neben ihrer politischen Arbeit hat Rey als Übersetzerin gearbeitet und drei Kinder grossgezogen, die längst erwachsen sind und das Haus verlassen haben. Trotz eher sozialistischer Überzeugungen eine grundbürgerliche Existenz also.

Tatsächlich brodelt hinter Reys ruhiger Fassade noch immer ungeheurer Zorn. «Ich kann mich nicht gelassen zurücklehnen», gibt sie zu. Milde ist sie mit dem Alter nicht geworden: «Im Gegenteil, ich rege mich immer mehr auf.»

Zornig ist sie denn auch über ihre früheren Genossinnen und Genossen. Laden sie nicht fast eine historische Schuld auf sich, indem sie konsequent die Faktoren Bevölkerungszahl und Migration verdrängen? «Die Schweiz ist, gemessen an der besiedelbaren Fläche, nach den Niederlanden das am dichtesten besiedelte Land in Europa», rechnet sie vor. «Auch meine Utopie sind offene Grenzen, ich verstehe jeden Afrikaner, der in die Schweiz kommen will», räumt sie ein. Doch solange es derart krasse Wohlstandsgefälle zwischen Arm und Reich in Europa und in der Welt gebe, sei dieser Wunsch «illusorisch». «So kann es nicht mehr weitergehen», entrüstet sie sich. «Wir können doch nicht das Matterhorn aushöhlen und dort drinnen Leute unterbringen.»

Zu den wenigen Parteifreunden, die Rey indirekt beistanden, gehörte die Zürcher SP-Nationalrätin Jacqueline Badran. Schon bei der Vorstellung des Migrationspapiers ihrer Partei übte sie Kritik an dem Dokument, weil es «die wichtigste Frage ausblendet: Wie viel Einwanderung wollen wir, wie viel Einwanderung verträgt die Schweiz, wie viel Wanderung die Europäische Union und die Welt.».

Aber warum blendet die Linke das Thema Migration aus? Rey sieht einen «irrationalen Reflex» am Werk: Das Thema wird immer gleich mit «rechtsextrem» und SVP gleichgesetzt», glaubt sie. Aber genau diese Kräfte sind es doch jetzt, die ihr – von der falschen Seite – Beifall spenden für die Initiative. Sind ihr diese falschen Freunde nicht unangenehm, ja vielleicht sogar peinlich?

Anne-Marie Rey entpuppt sich als Pragmatikerin: «In der Politik muss man Allianzen dort nehmen, wo man sie kriegt», konstatiert sie lapidar, und fügt mit feinem Lächeln hinzu: «Ich war damals schliesslich auch froh, als Christoph Mörgeli die Fristenregelung unterstützt hat.» Der SVP-Politiker, so viel klingt bei ihren Worten an, zählt normalerweise nicht zu ihren natürlichen Verbündeten.

Sie weiss natürlich auch, dass nicht alle Befürworter der Ecopop-Initiative aus denselben Beweggründen für die Vorlage stimmen werden wie sie. Vielen wird es nicht um die Grenzen des Wachstums, um eine grüne Wirtschaftsordnung, um eine gesunde Schweiz auf einem gesunden Planeten gehen. Für diese Wähler wird Ecopop nur so etwas wie «Masseneinwanderung 2.0» sein: der zweite Durchgang, mit dem man dem politischen Establishment im Allgemeinen und dem Bundesrat im Besonderen ein Feuer unter dem Allerwertesten entfachen kann. «Sicher, das ist ein Gemisch von Ansichten», sagt sie ruhig. «Aber das haben Sie ja bei den meisten Volksabstimmungen.»

Sie jedenfalls will nicht aufgeben, sie ist kein kleines bisschen müde, trotz ihres Alters. Schon vor Jahren hat ihr ein Pfarrer entnervt nahegelegt, sie solle «doch jetzt einfach ihren Lebensabend geniessen». Dem Rat folgte sie schon damals nicht. Hatte ihr nicht Claudine Esseiva, die Generalsekretärin der FDP-Frauen, eine «unruhige Seele» bescheinigt, die «alles sofort haben will»?

Zudem muss sie noch Überzeugungsarbeit leisten – auch daheim. Bis jetzt hätten ihr Mann und ihre Kinder immer hinter ihr gestanden. «Aber jetzt sind sie skeptisch», meint Rey stirnrunzelnd. «Auch mein Mann hat Zweifel. Aber ich bearbeite ihn weiter. Ich habe ja noch Zeit.»

Das stimmt. Es kann noch viel passieren bis zum 30. November. g