Mit Glocken gegen böse Geister und Gewalt

Der Bund

UNTERSEEN / Schweigend, und doch nicht still: Mit lautem Glockengeläute sind am Samstag rund 1000 Personen durch Unterseen und Interlaken gezogen, um ein Zeichen gegen Gewalt zu setzen. Rechtsextremismusexperte Jürg Frischknecht rief die Unterseener dazu auf, hinzuschauen: «Denn Rechtsextremismus fällt nicht vom Himmel.»

? CHRISTINE BRAND

Der Himmel steht stahlblau über Unterseen. Der Mond hat sich an diesem ersten Sonnentag schon früh an den Himmel geschmuggelt. Auf dem Stadthausplatz des idyllischen Städtchens ist etwas los: Von allen Seiten strömen Menschen aller Gattungen – von der Oma bis zum Alternativen, vom Säugling bis zum Rocker – auf den Platz. Nicht ein Skinhead mischt sich darunter. Die Szenerie lässt vermuten, dass die Unterseener mit einem Dorffest den verspäteten Frühling begrüssen wollen. Blumen werden verteilt. In den Bäckereien werden Friedenstauben verkauft. Glocken bimmeln in unterschiedlichsten Tonlagen.

Vor gut zwei Monaten wurde im gleichen Unterseen der 19-jährige Marcel von Allmen von seinen Kollegen zu Tode geschlagen. Zu fünft bildeten sie den rechtsradikalen «Orden der arischen Ritter». Zu viert wurde das Todesurteil über Marcel von Almen besiegelt, wahrscheinlich, weil er zu viel herumerzählt hatte. Die mutmasslichen Täter sind zwischen 17 und 22 Jahre alt.

«Das Ende vom Anfang»

Es wird kein Dorffest gefeiert. «Gemeinsam gegen Gewalt», steht auf einem gelben Transparent geschrieben. «Das Ende vom Anfang», auf einem anderen. Die Unterseener haben sich am Samstag getroffen, um in einem Glockenmarsch durch Unterseen und Interlaken zu ziehen, schweigend, mit läutenden Glocken. Sie demonstrieren gegen Gewalt. «Der Umzug ist ein grandioser Erfolg»: Simon Margot, Gemeindepräsident von Unterseen, befindet sich mitten im Umzug, neben einem Polizisten in Zivil. Die Polizei ist auf der Hut. Antifa-Aktivisten haben sich angekündigt. Nur ganz wenige sind gekommen. «Sie spielen nicht ihr Spiel», sagt Margot. Sie gehen in der Menge unter. Vor allem Einheimische jeden Alters marschieren mit. Margot: «Es sind die Leute, die wieder vermehrt miteinander reden sollten.» Der Marsch sei ein Zeichen, dass man in Unterseen vorwärts schauen wolle. Ohne dabei zu vergessen.Nicht nur vorwärts, sondern hinschauen sollten die Unterseener, «denn Rechtsextremismus fällt nicht einfach vom Himmel – auch nicht vom Oberländer Himmel», sagt Gastreferent Jürg Frischknecht, Autor und Kenner der rechtsextremen Szene. Das Gewaltdelikt in Unterseen habe ihm zu denken gegeben. «Leider ist es eine vorstellbare Tat, wenn man weiss, was in der Ideologie des Rechtsextremismus‘ steckt.» Es sei eine gewalttätige Ideologie. «Wer heute das Wort ,arisch‘ in den Mund nimmt, bekennt sich zur arischen Rassentheorie, die Millionen von Menschenleben gekostet hat.» In Unterseen seien fünf Menschenleben von dieser Ideologie zerstört worden. «Rechtsextremismus ist eine Sackgasse.»

«Geil-Hitler-Generation»

Heute sei es für die Jungen schwierig, zu provozieren. Frischknecht: «Wir haben es mit einer Geil-Hitler-Generation zu tun.» Jugendliche wüssten, dass Hitler «pfui» sei und fänden ihn deshalb attraktiv. Schnell einmal würden coole Bomberjacken und Springerstiefel gekauft. «Und schnell werden junge Pseudoskins von Neonazi-Skins politisiert.» Statt zu schweigen, müsse sich die Gesellschaft Fragen stellen: Fragen, ob die aggressivere Wirtschaft, die zunehmende Entsozialisierung der Gesellschaft oder die etablierte Partei, die gegen Minderheiten hetze, in einem Zusammenhang mit der Zunahme des Rechtsextremismus stünden. «Ich weiss nicht, ob man den Mord an Marcel von Allmen hätte verhindern können», sagt Frischknecht. Aber er wisse, was die Unterseener jetzt machen könnten: «Kämpft um die jungen Leute. Schaut nicht weg.»

«Geschlossen gegen den Rechtsextremismus antreten» will auch Sabina Stör, Präsidentin des Interlakner Jugendparlaments. Sehr schnell, sagt sie, sei von einer unmenschlichen Tat gesprochen worden. «Dabei war die Tat allzu menschlich.» Es sei auch menschlich, dass Junge auf der Suche seien: «Aber auf dieser Suche kann man abgeholt werden.» Und es sei ebenso menschlich, dass man die kleinen Zeichen nicht erkenne und es zum grossen «Chlapf» komme. «In Unterseen haben wir dies auf brutalste Weise erfahren.» Fünf Minuten lang liessen die Bödeli-Gemeinden die Kirchenglocken läuten. Nach altem Brauch werden in Unterseen mit Glocken die bösen Geister vertrieben.