Migration in der Schweiz: Die Vorstellung, wer Schweizer oder Schweizerin ist, passt nicht immer zur Realität

Nzz.ch Die Debatte über Rassismus lässt sich hierzulande nur bedingt mit der in den USA vergleichen – doch der Historiker und Migrationsforscher Kijan Espahangizi (ETH und Universität Zürich) erkennt auch im Schweizer Alltag viel Diskriminierung. Eine Debatte über die Frage «Wer ist die Schweiz?» sei nötig.

Videotranskript.

Kijan Espahangizi:
«Wie sieht ein Schweizer aus oder eine Schweizerin?»
Ich habe mal Google gefragt. Ich würde jedem mal raten, «Schweizer Mann» zu googeln.
Google ist gut, um Klischees rauszubekommen. Ich persönlich würde vielleicht jetzt nicht so gut ins Bild passen. Name nicht, Sprache nicht, redet Hochdeutsch, sieht so aus, wie er aussieht. Tatsächlich habe ich einen Schweizer Pass, und das zeigt eben, dass die Vorstellungen, wer Schweizerinnen und Schweizer seien, nicht immer zur Realität passen. Die Realität verändert sich dauernd, etwa durch Einwanderung. Also dieses Gespräch darüber: «Wer ist die Schweiz?», das könnte man heute anfangen.»

«Mein Name ist Kijan Espahangizi. Ich bin Historiker und arbeite an der Universität und der ETH Zürich, ich habe mich spezialisiert auf Migrationsgeschichte, auf das Konzept der postmigrantischen Gesellschaft, und arbeite zum Thema Rassismus. Rassismus in der Schweiz betrifft sehr viele unterschiedliche Gruppen. Das geht zurück etwa auf den Antisemitismus, den es seit langem, seit dem Mittelalter, in der Schweiz gibt. Auf die Diskriminierung von Fahrenden, Sinti, Roma, Jenischen. Auf die Diskriminierung von Leuten, die zum Arbeiten in die Schweiz gekommen sind, etwa aus Südeuropa aber auch aus Osteuropa.»

«Seit den 1980er Jahren haben wir eine zunehmend auch globale Einwanderung, und in diesem Kontext kommt dann auch so was wie anti-asiatischer Rassismus, anti-schwarzer Rassismus. Das spielt zunehmend eine Rolle. In dem Sinne gibt es Anti-Schwarzen-Rassismus in der Schweiz auch, und die Proteste in den USA helfen das zu sehen, aber er ist gewissermassen Teil von ganz unterschiedlichen Rassismusformen, die allerdings in einer Weise zusammenhängen. Und zwar wird immer davon ausgegangen, dass es sich hier um Fremde handelt. Das sind Leute, die Nichtschweizerin und –schweizer sind, das sind die Ausländer. Das ist nicht deckungsgleich mit: «Wer hat den Schweizer Pass oder auch nicht.» Das wissen alle im Alltag, die eine andere Hautfarbe haben oder vielleicht ein «-ic» am Nachnamen: dass man, selbst wenn man den Pass hat, im Alltag schneller als Ausländerin und Ausländer wahrgenommen wird. Und das zeigt, das ist der Ort, an dem Rassismus in der Schweiz zum Ausdruck kommt.»

«Beispiel: Wenn ich etwa der Annahme bin, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen nicht sauber sind, dann komme ich vielleicht, wenn ich in der Position bin zu entscheiden:  «Wem gebe ich meine Wohnung?», dann entscheide ich mich tendenziell dagegen. Wir können aus den Daten, die wir haben, sagen, dass Rassismus in sehr unterschiedlichen Lebensbereichen vorkommt. Da, wo er als Problem wahrgenommen wird, ist vor allen Dingen halt auch im Arbeitsleben, im Alltag, im Berufsleben an Schulen, also in Bereichen, die eben den Alltag prägen, aber wo es auch darum geht: «Zu was für Ressourcen habe ich Zugang? Wie kann ich an einer Gesellschaft teilhaben?»

«Wir sind solidarisch mit den Protesten in den USA, hören auch genau hin. Und andererseits ist das erst der Anfang einer Auseinandersetzung mit Rassismus hier. Das heisst, man muss sich die Frage stellen:
«Was heisst jetzt genau Rassismus in der Schweiz?» Und da gibt’s einen Unterschied zu dem in den USA, und den müssen wir herausarbeiten. In den USA geht es vor allen Dingen aktuell um den Konflikt zwischen Weiss und Schwarz. Das ist ein Konflikt, der zurückgeht auf die Geschichte der Sklavenhaltung in den USA, das ist ein Konflikt, der noch lange nicht aufgearbeitet ist und der gravierende Konsequenzen hat für die Gesellschaft und diese auch aktuell spaltet.»

«Wenn wir uns fragen, was Rassismus in der Schweiz heisst, kann man erstmal feststellen: Natürlich gibt’s auch hier Anti-Schwarzen-Rassismus. Aber er spielt nicht die zentrale Rolle wie in den USA. Die Schweiz hat sich aufgrund von Einwanderung verändert, es gibt viele politische Auseinandersetzungen um das Thema. Die einen sehen das als Bereicherung, die anderen als Bedrohung. Egal, wie man es sieht, es ist längst passiert. Die Schweiz hat sich verändert und ist auch weiterhin auf Migration angewiesen. Das heisst, sie wird sich auch in Zukunft verändern. Die Bevölkerung verändert sich. »

«Das hat dazu geführt, dass sich ein gewisses Demokratiedefizit angestaut hat. Das sieht man sehr deutlich bei der Zahl der Menschen, die in der Schweiz leben, teilweise bis in der dritten Generation, aber kein hiesiges Bürgerrecht haben. Das ist ein Viertel der Bevölkerung in der Schweiz. Viele dieser Menschen, aber auch viele, die schon eingebürgert sind, erfahren Rassismus. Ausgrenzung, weil sie als Fremde wahrgenommen werden. Wenn wir es schaffen, das zu ändern, die Vorstellung davon, wer eigentlich dieses Land ist, bin ich davon überzeugt, dass wir auch Rassismus, als ein wichtiges gesellschaftliches Problem halt auch massgeblich entschärfen können. »

«Wir sind an einem guten Punkt, wenn in 20 Jahren die Frage nach dem «Schweizer Mann» auf Google Bilder auswirft, die auch den Veränderungen in der Bevölkerung aufgrund von Einwanderung gerecht werden.»