Kurden planen weitere Aktionen

Der Bund: Nach den schweren Zusammenstössen kommt Bern nicht zur Ruhe: Kurdenorganisationen kündigen weitere Protestaktionen an. Sicherheitsdirektor Nause will die Bewilligungspraxis für Kundgebungen verschärfen.

Der Schlagabtausch zwischen Türken und Kurden geht nach den Ausschreitungen rund um den Helvetiaplatz auf sozialen Medien weiter: Auf Twitter hält etwa ein Verwundeter im Spitalbett eine kurdische Flagge hoch. «Er wurde bei der Demo in Bern an der Schulter verletzt und musste operiert werden», sagen Vertreter der Gruppierung Kurdische Jugend Schweiz, die anonym bleiben wollen. Die Organisation hatte im Vorfeld für die «Überraschungs-Demo» von Kurden mobilisiert – und damit eine Eskalation in Kauf genommen. «Jeder von uns hatte Angst. Aber wir Kurden können angesichts der dramatischen ­Situation in der Türkei nicht mehr ruhig bleiben. Wenn Unrecht zu Recht wird, ist Widerstand Pflicht. Die Provokationen der türkischen Faschisten haben uns tief getroffen.»

Stadt bewilligte Demo kurzfristig

Zur bewilligten Demo «Nationaler Wille gegen den Terror in der Türkei» aufgerufen hatte die Union europäisch-türkischer Demokraten (UETD). Unter den mehreren Hundert Kundgebungsteilnehmern befanden sich zahlreiche Sympathisanten der «Grauen Wölfe», welche die rechtsextreme türkische Partei der Nationalistischen Bewegung unterstützen. Ein «Bund»-Reporter beobachtete vor Ort, wie eine homogene Gruppe von etwa 50 «strammen, muskulösen» Männern zum sogenannten Wolfsgruss ansetzte und damit den Zorn der Kurden entfachte. UETD-Vetreter wollten gestern trotz mehrfacher Anfragen durch den «Bund» keine Stellung nehmen. «Wir sagen gegenüber Medien nichts mehr zur Kundgebung», hiess es am Kontakttelefon. In einer schriftlichen Stellungnahme vom Sonntagabend hielt die UETD auf Facebook fest, dass man am 9. September bei der Stadt Bern ein Gesuch für eine Kundgebung eingereicht hatte. Bereits am darauffolgenden Tag ist die Demo von der Gewerbepolizei schriftlich bewilligt worden. Kurze Zeit später seien Aufrufe zur Verhinderung der bewilligten Kundgebung zu verzeichnen gewesen. «Es entstand eine regelrechte Hetze gegen unsere Veranstaltung», schreibt die UETD.

Hat die Stadt Bern die Situation falsch eingeschätzt und der UETD leichtfertig eine Bewilligung erteilt? Sicherheits­direktor Reto Nause (CVP) verneint dies vehement. Es brauche ganz gravierende Gründe, um eine Bewilligung und damit das verfassungsmässige Grundrecht der Versammlungsfreiheit zu verweigern – etwa einen Aufruf zur Gewalt. Die Abläufe – inklusive Sicherheitsbeurteilung der Kantonspolizei – seien wie gewohnt rasch durchexerziert worden. «Ein ­Sicherheitsproblem ist erst mit der angekündigten Gegenkundgebung entstanden», hält Nause fest. Von diesem Aufruf haben man am 11. September erfahren. Dennoch könne man wegen der Ankündigung einer Gegendemo nicht einfach die erteilte Bewilligung zurückziehen.

Nause will Schraube anziehen

Die nächste Kundgebung von Kurden in Bern dürfte nicht lange auf sich warten lassen. «Wir planen weitere Aktionen in Bern», sagen die Sprecher der Kurdischen Jugend Schweiz. Wann genau, sei noch offen. In der Hauptstadt erreiche man die grösste Aufmerksamkeit. Nach den Ausschreitungen vom letzten Samstag ist zu befürchten, dass die Volksgruppen aus der Türkei Rache nehmen wollen und erneut aneinander geraten. «Wir können nicht zulassen, dass in Bern der innertürkische Konflikt weiter ausgetragen wird», sagt Nause. Dies könnte auch Einfluss auf die Bewilligungspraxis bei Demonstrationen haben: «In der aktuellen Situation hat sich bei einer Güterabwägung zwischen Meinungsfreiheit und öffentlicher Sicherheit das Gewicht klar Richtung öffentlicher Sicherheit verschoben», sagt Nause.

Die Vertreter der kurdischen Jugend glauben nicht, dass sich die Situation rasch wieder beruhigt. Im Gegenteil: Irgendwann würden Leute womöglich gar zu den Waffen greifen. In Deutschland kursierten bereits solche Aufrufe.

Berner Friedensappell

Der kurdischstämmige Berner Grossrat Hasim Sancar (Grüne) appelliert derweil an beide Seiten, die Gewalt zu stoppen. Er startete letzte Woche darum einen Appell, der die Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen in der Türkei fordert. «Erst wenn sich die Situation in der Türkei beruhigt, entspannt sich die Lage auch hier.»

Todesdrohungen wegen Auto

Der Zorn der Kurden in der Schweiz richtet sich insbesondere gegen den Besitzer des Wagens, welcher am Samstag in die Menschenmenge gefahren ist. Diverse Todesdrohungen machten auf dem Internet die Runde. Pikant: Der Besitzer hat sich nun an die Öffentlichkeit gewandt. Er sei nicht der Lenker gewesen. Die Kantonspolizei bestätigte gegenüber der Zeitung «20 Minuten», dass es sich beim Lenker nicht um den Besitzer des Wagens handelte. Weitere Informationen zu den Geschehnissen kann die Polizei derzeit nicht geben. «Es befinden sich keine Personen in Haft», sagte Kapo-Sprecherin Simona Benovici.

Pistolenschüsse

1993 gab es ein Todesopfer

Nicht zum ersten Mal hat sich der türkisch-kurdische Konflikt auch in Bern manifestiert. So demonstrierten kurdische Aktivisten am 24. Juni 1993 vor der türkischen Botschaft in Bern. Dabei wurde ein Demonstrationsteilnehmer von Botschaftsangehörigen beschossen und dabei tödlich verletzt. 60 Kurden wurden in der Folge wegen Landfriedensbruchs gebüsst. Aus Gründen der diplomatischen Immunität konnte der Schütze in der Botschaft nicht juristisch verfolgt werden. Dieses Szenario – gebüsste Demonstranten und ein ungeahndeter Todesschuss – missfiel damals auch dem zuständigen Richter. Sowohl der türkische Botschafter in Bern als auch der schweizerische in Ankara wurden zurückgerufen. Es kam zu einer jahrelangen diplomatischen Eiszeit. Von türkischer Seite wurde der Vorwurf erhoben, die Polizei habe die Botschaft zu wenig geschützt, wozu sie verpflichtet wäre. Mehrere SP-Politikerinnen und Politiker wurden als Kurdenfreunde und Unterstützer von «Terroristen» diffamiert. Bei einer späteren Demonstration vor der Botschaft 1996, die friedlich verlief, riegelte die damalige Stadtpolizei die Liegenschaft ­hermetisch ab. (mdü)