Gewalt gegen Schwarze in der Schweiz. Er starb nach Tritten in die Genitalien.

Tages-Anzeiger.

In Lausanne erlitt der Nigerianer Mike Ben Peter 2018 bei einer Polizeiaktion einen Herzstillstand und verstarb. Die Strafuntersuchung gegen sechs Polizisten läuft nach wie vor.

«Justice for Mike». Die Protestgraffiti in der Lausanner Innenstadt sind nicht verblichen. Sie erinnern an den Tod von Mike Ben Peter. Der 40-jährige Nigerianer erlitt am 28. Februar 2018 um 22.45 Uhr bei einer Polizeikontrolle in der Nähe des Bahnhofs einen Herzstillstand. 500 Leute zogen danach durch die Strassen und protestierten gegen die Polizeigewalt. Die Szenen erinnern heute an die «Black Lives Matter»-Kundgebungen, die nach dem Tod des Afroamerikaners George Floyd am Pfingstmontag in Bern und Zürich stattfanden.

Das Schicksal von Mike Ben Peter zeigt exemplarisch: Polizeigewalt gegen Schwarze betrifft die Schweiz genauso wie die USA. Die Todesfälle von Floyd in Minnesota und Ben Peter in Lausanne weisen frappante Ähnlichkeiten auf. Beide starben mit dem Gesicht nach unten, nachdem Polizisten sie minutenlang mit Gewalt zu Boden gedrückt hatten. In Minnesota erstickte George Floyd, in Lausanne erlitt Mike Ben Peter einen Herzstillstand. 12 Stunden später starb er im Universitätsspital.

Zwischen den Fällen gibt es aber einen entscheidenden Unterschied: Floyds Todeskampf ging als Beweisvideo um die Welt. Im Fall von Ben Peter gibt es keinen einzigen direkten Zeugen, nur einen Nachbarn, der Schreie hörte und aus dem Fenster schaute. Da waren die Polizisten bereits mit lebensrettenden Massnahmen beschäftigt.

Kein Kokain im Blut

Über den nächtlichen Einsatz der Lausanner Stadtpolizei informierte am 1. März 2018 die Waadtländer Kantonspolizei. Sie schrieb: Der Mann habe bei der «Präventivkontrolle gegen den Strassendeal» ein «verdächtiges Verhalten» gezeigt, damit «die Aufmerksamkeit eines Beamten auf sich gezogen» und sich während der Kontrolle und später bei seiner Verhaftung vehement zur Wehr gesetzt. Der 40-Jährige habe keine feste Wohnadresse gehabt und sei wegen Drogenhandels bereits einmal verurteilt worden.

«Er musste in Handschellen gelegt werden», so die Polizei. Die anwesenden Polizeibeamten hätten ihn «sofort mit einer Behandlung, einschliesslich Herzmassage» zu retten versucht und dabei «mehrere Kokainkügelchen neben seinem Gesicht und in seinem Mund» entdeckt.

Die Autopsie ergab ein anderes Bild. Der Mann hatte keine Drogen im Blut, jedoch massive Hämatome an den Rippen und den Genitalien. Die Polizisten gaben zu, Pfefferspray eingesetzt und mit den Knien gegen den Körper getreten zu haben. Dann legten sie ihn bäuchlings auf die Strasse, knieten zu fünft auf seinem Rücken und zogen ihm die Beine hoch. Ein Polizist stand als Beobachter dabei.

Anklage wegen vorsätzlicher Tötung gefordert

Der Waadtländer Staatsanwalt eröffnete gegen die sechs Polizisten eine Strafuntersuchung wegen fahrlässiger Tötung. Das Verfahren läuft noch, auch weil jeder Polizist einen eigenen Anwalt hat, was das Verfahren verzögert. Der Genfer Anwalt Simon Ntah, der die Opferfamilie vertritt, bezeichnet den Polizeieinsatz als «komplett unverhältnismässig». Er fordert vom Staatsanwalt eine Anklage wegen vorsätzlicher Tötung.

Ntah kritisiert: «Anders als in normalen Strafuntersuchungen gab es zu Beginn keinerlei Massnahmen, um zu verhindern, dass sich die Polizisten zum Tathergang absprechen und die Wahrheitsfindung behindern.» Die Frage, ob die Waadtländer Justiz die Polizeiaktion mit der nötigen Unabhängigkeit untersucht, will er erst zu einem späteren Zeitpunkt beurteilen.

Die Anwälte der Polizisten wiederum stellen den Tod des 40-Jährigen als eine Art unglücklichen Vorfall dar. Sie verweisen auf sein angebliches Übergewicht, das als natürlicher Faktor den unbeabsichtigten Tod mitbegünstigt habe. Zudem sei er erst Stunden nach der Polizeiaktion gestorben, wodurch man die genaue Todesursache nicht nennen könne, und habe an Herzrhythmusstörungen gelitten. Für Anwalt Ntah ist dies alles irrelevant. «Ohne Polizeieinsatz wäre Mike Ben Peter nicht gestorben», sagt er. Und: «Die Polizisten hatten in dieser Nacht keinen Auftrag. Darum einigten sie sich darauf, mögliche Drogendealer zu jagen.»

Richter geben Klägern selten recht

Letzte Woche fand eine weitere Anhörung statt – kurz nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd. «Der Zeitpunkt war ein Zufall», sagt Simon Ntah. Zwei Rechtsmediziner mussten über ihre Untersuchung des Falls Auskunft geben. Für Anwalt Ntah blieben Fragen offen. Darum wird es diesen Sommer nochmals eine Anhörung geben, die wohl letzte. Danach wird der Staatsanwalt definitiv entscheiden müssen, ob er Anklage erhebt oder aber das Verfahren einstellt. Die Polizisten wurden nie suspendiert.

Der Fall von Mike Ben Peter gilt als besonders tragisches und krasses Beispiel von Racial Profiling. Als ethnisches Profiling gilt, wenn Polizisten eine Person primär aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Sprache oder Herkunft kontrollieren. Schweizweit kommen regelmässig Fälle vor Gericht. Doch selten geben Richter Klägern recht.

Auch Mohamed Wa Baile scheiterte mit seinen Klagen bis vor Bundesgericht. Der Bibliothekar der ETH Zürich fuhr im Februar 2015 frühmorgens von seinem Wohnort Bern nach Zürich. Stadtpolizisten zogen ihn aus dem Pendlerstrom und wiesen ihn an, sich auszuweisen. Wa Baile teilte den Beamten mit, er empfinde die Kontrolle als Racial Profiling, worauf diese seinen Rucksack durchsuchten und ihn wegen Nichtbefolgens polizeilicher Anordnung büssten. Die Gerichte entschieden, dass nichts darauf schliessen lasse, dass die Kontrolle aufgrund der Hautfarbe durchgeführt worden sei. Wa Bailes Klage ist aktuell vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hängig.

Traumatische Erfahrung

Zahlen der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus zeigen: In der Schweiz erleiden Personen aufgrund ihrer Ethnie immer wieder Nachteile: Vergangenes Jahr gelangten 23 Personen an eine Beratungsstelle und gaben als Grund Racial Profiling an. Und das sind nur die gemeldeten Fälle. Die Kommission erhebt diese Zahlen seit 2015, und sie bewegen sich immer in dieser Grössenordnung.

Kommissionspräsidentin Martine Brunschwig Graf sagt: «Berichte von Betroffenen sowie von Beratungs- und Ombudsstellen zeigen klar, dass zum Beispiel Schwarze immer wieder ohne sachlichen Grund kontrolliert werden.»

Anne-Laure Zeller, Leiterin der Genfer Beratungsstelle gegen Rassismus, sagt: «Betroffene können einen traumatischen oder posttraumatischen Schock (Bumerang-Effekt) erleiden, vor allem, wenn die Kontrolle lange dauert und sie beispielsweise eine Nacht in der Zelle verbringen müssen oder wenn sie wiederholt kontrolliert worden sind. Diese Menschen entwickeln ein starkes Gefühl des Verfolgtwerdens. Einige sprechen von ihrem Vertrauensverlust oder auch ihrer Angst vor den Sicherheitskräften, den öffentlichen Institutionen und dem Staat allgemein. Viele Betroffene befürchten, dass auch ihre Kinder solche Kontrollen erleben müssen.»

Kein Platz für Rassisten

«Es ärgert mich, wenn es heisst, alle Polizisten seien Rassisten», sagt indes Johanna Bundi Ryser, Präsidentin des Verbands Schweizerischer Polizei-Beamter. Das entspreche nicht den Tatsachen. «Natürlich kann ich nicht behaupten, dass es nie vorkommt, dass ein Polizist oder eine Polizistin jemanden aufgrund der Hautfarbe anders behandelt. Aber wenn dies jemand tut, dann hat er keinen Platz bei uns.» Sie fordert, dass jeder Kanton eine Ombudsstelle einrichtet. An diese könnten sich Bürgerinnen und Bürger wenden, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlten. «Wenn etwas schiefläuft, muss man hinschauen. Wir decken niemanden, der sich falsch verhält», sagt sie.

Wäre dies auch in Minnesota so gehalten worden, wäre es wohl kaum zum Fall George Floyd gekommen. In der Schweiz gehe die Polizei mit einer anderer Haltung an die Arbeit als in den USA, sagt Reto Habermacher, Direktor des Schweizerischen Polizei-Instituts, des nationalen Ausbildungszentrums der Polizeikorps. In der Schweiz stehe der Mensch im Zentrum, in den USA die Polizei als Machtinstrument des Staates. Hier setze man in erster Linie auf Deeskalieren und Gespräche, dort komme der Waffe eine zentrale Rolle zu. Hier daure die Grundausbildung neu 104 Wochen, dort 19 Wochen.

In wie vielen Unterrichtsstunden das Racial Profiling thematisiert wird, kann Habermacher nicht sagen; es sei in verschiedensten Fächern Thema. «Wir distanzieren uns in der Ausbildung klar vom Racial Profiling und sensibilisieren die angehenden Polizistinnen und Polizisten wiederholt dafür.»

Dennoch übt Martine Brunschwig Graf Kritik: «Bei der Polizei wird noch nicht genug getan.» In Fällen von Polizeigewalt brauche es zwingend unabhängige Schlichtungsstellen. Und da Rassismus oft tabuisiert werde, müsse das Thema umso dringlicher in der Aus- und Weiterbildung thematisiert werden. «Das Bewusstsein für diskriminierende Strukturen und Praktiken bei der Polizei beginnt sich in der Schweiz erst langsam zu entwickeln.»