Die Blindheit der «Nicht-Rassisten»

Züriost-Blog.

Der Mord an George Floyd durch einen beziehungsweise mehrere Polizisten hat die rassistischen Strukturen in den USA einmal mehr auf brutalste Weise offengelegt und dazu geführt, dass nicht nur in Minneapolis oder Detroit, sondern auch am Pfannenstiel über Rassismus diskutiert wird.

Dem Präsidenten der FDP Egg ist das zum Verhängnis geworden. In einem Tweet hat er eine andere Nutzerin aufgefordert, «auf ihrem Kontinent» zu bleiben. Die Kritik, die ihm in der Folge entgegenschlug, war – auch nach nachgereichter Entschuldigung – heftig.

Es soll an dieser Stelle nicht darum gehen, ob der Absender des Tweets ein Rassist ist oder ob er sich «nur» in einem Einzelfall auf höchst problematische Weise geäussert hat. Der Fall ist aber ein Stück weit symptomatisch dafür, wie hierzulande immer wieder über Rassismus diskutiert wird: Ein Rassist will niemand sein, aber Geschichtsvergessenheit und mangelnde Sensibilität, die bei manchen Beiträgen mitschwingen, sind frappierend.

Dabei wirkt es mitunter so, als sei bei manchen die Vorstellungskraft im Zusammenhang mit der Rassismus-Thematik auf Primarschullevel stehen geblieben: Rassistisch, das ist der Neonazi, der in Bomberjacke und mit erhobener rechter Hand «Ausländer raus!» brüllt. Der Redneck, der in seinem Wohnwagen irgendwo im Süden der USA mit Speiseresten im Bart von einem Rassenkrieg träumt. Oder der besoffene Rohling am «Bären»-Stammtisch, der kurz nach der Bestellung des fünften «Herrgöttli» über «Neger», «Jugos» oder Juden schimpft. Wer solche Stereotypen vor Augen hat, kommt im Vergleich schnell zum Schluss, dass er selbst «kein Rassist» ist.

Dabei geht es nur selten um die klassischen Hardcore-Rassisten. Auch wenn solche Elemente in diesen Zeiten bedauerlicherweise wieder Aufwind verspüren und gar vom mächtigsten Mann der Welt als «very fine people» bezeichnet werden, dürften sie in den meisten Gesellschaften eine Minderheit darstellen.

Das Problem ist die deutlich weiter verbreitete Blindheit für rassistische Muster und Strukturen, die teils seit Jahrzehnten, ja Jahrhunderten bestehen und eigentlich nie so richtig aufgelöst wurden – und die den überzeugten Rassisten in die Karten spielen.

Ja, die Sklaverei wurde längst abgeschafft, aber es gibt vielerorts eine mehr oder weniger direkte Linie, die von ihr in die heutigen Elendsviertel in Nord- und Südamerika führt. Ja, die Armee des belgischen Königs Leopold II. ist seit über 100 Jahren aus dem Kongo abgezogen, aber deshalb ist der Kolonialismus nicht einfach «Schnee von gestern», wie es einige immer wieder weismachen wollen. Abhängigkeiten und Traumata wirken nach.

Im alltäglichen «Kleinen» wiederum ist es immer wieder erstaunlich, wie jene, die selbst nie Zielscheibe von Rassismus wurden (und es wohl nie werden), über jene urteilen, die sich über rassistische Vorfälle beklagen: Die Schweiz hat kein strukturelles Rassismus-Problem? Mag sein, aber wenn man über diese Frage diskutieren will, sollte man auch jene mitreden lassen, die einzig aufgrund ihres Äusseren nicht in Lokale oder Clubs eingelassen wurden oder deshalb schon Schwierigkeiten mit der Polizei hatten. Der ehemalige FCZ-Spieler Yassine Chikhaoui, der beim Bummel in der Zürcher Innenstadt fälschlicherweise für einen Taschendieb gehalten und verhaftet wurde, wäre einer davon.

Wem es mit dem Kampf gegen Rassismus ernst ist, sollte diesen nicht kleinreden und sein Sensorium für bestimmte Betroffenheiten und Zusammenhänge schulen – das gilt umso mehr für jene, die selbst nie Rassismus erfahren haben, sich aber dennoch in die öffentliche Debatte einschalten wollen. Sich einfach zu foutieren, ist natürlich auch eine Möglichkeit. Aber dann sollten sich auch selbst erklärte «Nicht-Rassisten» nicht über Shitstorms wundern.

Benjamin Rothschild beschäftigt sich tagtäglich mit Regionalpolitik und glaubt, dass sich in dieser immer wieder die grosse Politik spiegelt – und umgekehrt. Und wenn die Ebenen mal überhaupt nichts miteinander zu tun haben sollten, kann man ja trotzdem darüber schreiben.