Die Burka ist nicht das Problem

TagesWoche: Wieder einmal wird ein Thema hochgekocht – doch der Wunsch, die Vollverschleierung von Frauen zu verbieten, hat weniger mit dem Islam zu tun als mit unserer eigenen Befindlichkeit.

Nicht die Burka ist das Problem. Wir sind es. Es gab nämlich eine Zeit mit kaum mehr Burkas als heute – aber noch ohne Burka-Debatte. Dann meldeten sich die bekannten Anti-Islamisten und starteten eine Volksinitiative, weil sie der Meinung sind, gegen extreme Islamvarianten einschreiten und ein Zeichen setzen zu müssen.

Das Burkaverbot ist eine Variante des Anti-Islamismus wie das Minarettverbot, wie die Opposition gegen die sehr wünschbare Ausbildung von Imamen im eigenen Land und die öffentlich-rechtliche Anerkennung muslimischer «Kirchen». Inzwischen gibt es bereits Ansätze, auch den Burkini-Badeanzug, weil angeblich unhygienisch, verbieten zu wollen.

Nicht erstaunlich wäre, wenn wir von gewöhnlichen Fleischfressern gelegentlich eine Anti-Halal-Initiative serviert bekämen. Zu Beginn der Geschichte des schönen Volksrechts, dessen 125. Geburtstag wir gerade feiern, hatten nämlich sich tierschützerisch gebende Antisemiten für ein gesamtschweizerisches Schächtverbot gesorgt.

Im Kampf gegen die Burka zeigen sich zentralistische Lösungsansätze einer Partei, die vorgibt, föderalistisch für Kantonslösungen zu sein.

Bei diesem Kreuzzug schwingt auch Abneigung gegen gemässigtere Verschleierungen mit. Der Kampf gegen die Burka problematisiert indirekt auch das gewöhnliche Kopftuch. Das Burkaverbot soll der Intention nach vor allem der Ausdehnung des Islam Einhalt gebieten. Damit verbindet sich diffus eine Gleichsetzung des Islam mit der Burka, obwohl diese nur in vereinzelten muslimischen Ländern (Afghanistan, Teile Pakistans und Golfstaaten) getragen wird. Die grosse Mehrheit der Musliminnen lebt unverschleiert. Islam-Theologen der Al-Azhar-Universität von Kairo vertreten sogar die Auffassung, dass die Gesichtsverschleierung dem Ansehen des Islam schade.

Die Befürworter/innen eines gesamtschweizerischen Burkaverbots können den Kanton Tessin zum Vorbild nehmen, wo seit dem 1. Juli dieses Jahres ein Burkaverbot gilt. Es ist zwar verwunderlich und schwer begreiflich, warum ausgerechnet die «Sonnenstube» in dieser Frage einen derartigen Handlungsbedarf gesehen hat. Dieser ist sicher nicht grösser als in den meisten anderen Kantonen; grösser ist vielmehr die Anhängerschaft rechtspopulistischer Kräfte (Lega und  UDC/SVP). Dies zeigt, dass der Wunsch, Burkas zu verbieten, mehr mit der eigenen Befindlichkeit als mit der Vollverschleierung zu tun hat.

SVP-Nationalrat Walter Wobmann, der bereits beim Minarettverbot eine führende Rolle gespielt hat, durfte der schweizerischen Fernsehgemeinde erklären, dass die Schweiz in dieser Frage eine einheitlich verbietende Haltung einnehmen müsse. Hier zeigt sich einmal mehr der uniformierte und zentralistische Lösungsansatz einer Partei, die vorgibt, föderalistisch für Kantonslösungen zu sein.

Fast jeder muss zur Burka eine Meinung haben – so wie vor Jahren zum Thema «Kampfhunde».

Die Schweizer Burka-Jäger können sich auf das Europäische Gericht für Menschenrechte berufen, das 2014 das französische Burkaverbot von 2010 gutgeheissen hat. Leute sehen sich also von «Strassburg» bestätigt, obwohl sie sich sonst nicht gross um dieses Gericht scheren und dessen Urteilshoheit sogar mit einer «Selbstbestimmungsinitiative» beseitigen wollen.

Neuerdings kommt auch aus Deutschland, das heisst von CDU/CSU, die sich wegen der demnächst bevorstehenden Landtagswahlen und der späteren Bundestagswahlen Sorgen machen, ebenfalls Vorschläge zur Regelung des Burkaproblems.

Das Burka-Fieber hat inzwischen derart um sich gegriffen, dass fast alle zu dieser Kleidung eine Meinung haben müssen. Wie vor Jahren zum Thema «Kampfhunde». Medien tragen zum Ansteigen der Fieberkurve bei, holen überall Stellungnahmen ein. So bekam auch der Zürcher SP-Regierungsrat Mario Fehr Gelegenheit, zu verkünden, dass auch er für ein Burkaverbot sei. Das war eine Erklärung, die überhaupt nicht zu seinem Departementsbereich gehörte, den Medien und deren Leserinnen und Lesern aber Diskussionsstoff lieferte.

Symbol der gefangenen Frau

Es gibt gute Gründe, gegen die vollständige und die ebenfalls weitgehende und systematisch, das heisst zwanghaft praktizierte Frauenverhüllung zu sein, ob mit der selteneren Burka oder dem häufigeren und vor allem auf der arabischen Halbinsel getragenen, zumeist schwarzen Nikab, der ebenfalls das Gesicht weitgehend verbirgt.

Der allererste Grund ist die dadurch massiv eingeschränkte Bewegungsfreiheit und die damit auch symbolisch zum Ausdruck gebrachte Gefangenschaft der Frau. Ein weiterer Grund liegt in der Störung der zwischenmenschlichen Beziehung, die auf einen Kontakt von Angesicht zu Angesicht angewiesen ist, die Beeinträchtigung des «living together», wie das Strassburger-Urteil festgehalten hat.

Schliesslich ein nicht unwichtiger Aspekt ist, dass diese totale «Schutzmassnahme» vor einer damit als grundsätzlich gefährlich eingestuften Umwelt, in der Formulierung von «Strassburg» auch die Würde der anderen verletzt: «The dignity of others who share the same public space and who are thus treated as individuals from whom one must be protected.»

Frauenfeinde fordern Gleichstellung

Der Hauptgrund der Frauendiskriminierung ist aber nicht die Hauptsorge der politischen Burka-Gegner. Es hätte in der Vergangenheit zahlreiche Gelegenheiten gegeben und es gibt sie weiterhin, gegen Frauendiskriminierung zu kämpfen. Doch vieles spricht dafür, dass, wer heute in diesem Fall für Gleichberechtigung in der Einkleidung ist, zu dem gesellschaftlichen Segment gehört, das noch in den Sechzigerjahren das für Frauen geltende Verbot des Hosentragens guthiess.

Wenn es nicht um Gleichstellung im Textilbereich, sondern um die weniger offensichtlichen Ungleichheiten von Mann und Frau geht (zum Beispiel in der Lohnfrage), ist von Leuten, welche die Frauen von der Burka befreien wollen, wenig bis nichts zu hören. Der nachmalige gesamtschweizerische SVP-Chefstratege Christoph Blocher hatte 1985, als er erst ein Zürcher Platzhirsch war und über das neue Eherecht abgestimmt wurde, vehement gegen die Gleichstellung von Mann und Frau gekämpft.

Die Anti-Burka-Initiative ist, wie das bei der Anti-Minarett-Initiative der Fall war, keine SVP-Initiative, obwohl sie von namhaften SVP-Exponenten, zum Beispiel auch Lukas Reimann, mitgetragen wird. In diesem Fall scheint es von Vorteil, die Initiative als überparteiliches Anliegen erscheinen zu lassen. Es dürfte in der Tat auch Unterstützung aus den rechten Flügeln der CVP und FDP geben und, wie wir gesehen haben, sogar aus der SP.

Männer im Kopftuch

In den letzten Tagen erhielten wir Hinweise auf eine Aktion, die auf humorvolle Weise gegen den Kopftuchzwang antrat. Die iranische Journalistin Masih Alinejad forderte mit erstaunlicher und erfreulicher Resonanz Paare auf, sich in umgekehrten Rollen in Selfies abzubilden – Männer mit Kopftuch, Frauen mit ihrer Haarpracht – und die Bilder ins Netz zu stellen (#MenInHijab). Photoshop könnte auch offenbaren, wie ganz anders der Auftritt wäre, wenn der mächtige Staatspräsident der Türkei, der oft mit seiner Gattin auf dem Podium vor der Menge steht, mit einem Kopftuch bekleidet wäre und seine Frau die Haare zeigen würde.

Die Iranerin will mit ihrer Aktion zeigen, wie absurd und lächerlich nicht das Kopftuch an sich, sondern der Kopftuchzwang für Frauen ist. Wer gegen die Kopftuchpflicht verstösst, dem drohen Strafen wie sie jetzt in umgekehrter Weise in Frankreich und im Tessin wegen Nichtbeachtung des Kopftuchverbots verhängt werden.

Die uns nun überrollende Anti-Burka-Welle bereitet dem Schweizer Tourismus Sorgen. In Interlaken, wo Gäste aus den Golfstaaten mit 13,2 Prozent (nach den Schweizern und den Chinesen) die drittgrösste Touristengruppe bilden, steht man dem Burkaverbot skeptisch gegenüber und freut sich über die Vertreibung von Gästen aus dem Tessin.

Unter ökonomischen Gesichtspunkten werden ethische Fragen schnell anders beurteilt.

Die Mediensprecherin erklärte gegenüber der Presse, man müsse froh sein um diese Besucher, die zum grössten Teil den Ausfall bei den europäischen Märkten kompensieren. Hier zeigt sich, dass politische, kulturelle und ethische Fragen unter ökonomischen Gesichtspunkten schnell anders beurteilt werden.

Das Argument für ein konsequentes Verbot leuchtet ein, wenn es vorbringt, dass sich Touristen den Landessitten anpassen sollten und wir dies in fremden Ländern ja auch täten. Es kann aber nicht auf Menschen angewendet werden, die zur festen Wohnbevölkerung gehören. Da muss eine andere Debatte geführt werden.

Und da sollten anstelle eines simplen Generalverbots im Verfassungsrang und mit entsprechender Stimmungsmache für den gesellschaftlichen Bedarf dosierte Einschränkungen für bestimmte Alltagssituationen (bei Behördenkontakten, in Spitälern, Schulen, öffentlichen Veranstaltungen et cetera) auf Gesetzesstufe genügen.