Der «Wilhelm Tell von Auschwitz»

Neue Zürcher Zeitung. Ende Juli 1989 endete die Flucht des berüchtigten SS-Mannes und KZ-Aufsehers Gottfried Weise – im Berner Oberland. Der Fall ist ein beklemmendes Beispiel für die juristische Aufarbeitung von Nazi-Verbrechen. Ein Blick zurück.

Für die Ärzte im Regionalspital Thun ist es zunächst reine Routine. Ein 68-jähriger Deutscher, der einen Schlaganfall erlitten hat, meldet sich am 13. Juli 1989 am Empfang. Er heisse Gerhard Sieber und benötige dringend Pflege. Sofort wird er behandelt, die Formalitäten können warten. Doch als sich das Personal Tage später darum kümmert, wird es stutzig: Immer mehr Ungereimtheiten tauchen auf – der Name des Patienten, der keinen Pass vorweisen kann, seine Adresse, seine Krankenkasse. Irgendetwas stimmt hier nicht.

Als der Deutsche auch noch damit prahlt, er werde in seiner Heimat steckbrieflich gesucht, wird die Spitalleitung aktiv. Sie meldet den Fall der Berner Kantonspolizei, die wiederum das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement einschaltet. Dieses erkundigt sich schliesslich bei den deutschen Behörden – und siehe da: Gerhard Sieber heisst in Wirklichkeit Gottfried Weise, ist wegen mehrfachen Mordes verurteilt, aber untergetaucht und international zur Fahndung ausgeschrieben. Am 26. Juli wird er im Spital in Thun festgenommen.

Der Fall macht grosse Schlagzeilen. Weise gelte als «einer der übelsten heute noch lebenden Nazi-Schergen», schreibt der «Blick» auf seiner Titelseite. Tatsächlich war der nun unverhofft im Berner Oberland geschnappte Pensionär einst ein berüchtigter SS-Mann und KZ-Aufseher, der von den Lagerhäftlingen wegen seiner Brutalität gefürchtet war. Spitzname: «Wilhelm Tell von Auschwitz».

Vom Krieg ins KZ

Die Biografie des 1921 geborenen Weise enthüllt die Musterkarriere eines nationalsozialistischen Überzeugungstäters. In bürgerlichen Verhältnissen in Sachsen aufgewachsen, absolviert er im «Dritten Reich» eine Maurerlehre sowie eine Handels- und Bauschule. Parallel dazu wird er zu einem «neuen Menschen» im Sinne des «Führers» erzogen. Weise ist Mitglied der Hitlerjugend, 1938 tritt er mit 17 Jahren in die SS ein, zwei Jahre später in die Waffen-SS. Er kämpft im Zweiten Weltkrieg an der Ostfront, wird im Herbst 1941 am Kopf verletzt und verliert das linke Auge. Darauf übernimmt er – inzwischen zum SS-Unterscharführer befördert – im Terrorregime der Nazis neue Aufgaben, etwa im Wachbataillon im KZ Sachsenhausen und ab Ende Mai 1944 im Vernichtungslager Auschwitz.

Am 3. Mai 1945, wenige Tage vor Kriegsende, wird Weise von amerikanischen Streitkräften festgenommen. Um sich bei der Verhaftung als fürsorglicher SS-Mann zu präsentieren, trägt er eine gehbehinderte KZ-Insassin über ein Feld. In Kriegsgefangenschaft beschönigt er seinen Lebenslauf: «Nur dem glücklichen Umstand, dass ich wachdienstunfähig war», verdanke er es, dass er in Auschwitz lediglich als «Kassenhilfsbuchführer» tätig gewesen sei. Sein Vater bittet die Alliierten brieflich um Nachsicht: «Diese Jugend hat den Nazi- und Satansgiftgeist eingehaucht bekommen.»

Im April 1948 wird Weise als «Mitläufer» eingestuft und kommt mit einer «Geldsühne» von 50 Mark davon. Er lässt sich als Bautechniker weiterbilden und findet Arbeit bei einer Bauunternehmung im rheinischen Solingen, wo er als unbescholtener und unauffälliger Bürger lebt, samt Ehefrau und Sohn. Doch seine Vergangenheit holt ihn ein.

Als Anfang der 1960er Jahre in Frankfurt am Main der erste grosse Auschwitz-Prozess stattfindet, kommt auch Weises Name zur Sprache. Der Staatsanwaltschaft reichen die Aussagen eines Zeugen aber nicht aus, um Anklage zu erheben. Erst 1982 kommen die Ermittlungen aufgrund neuer Aussagen wieder in Gang. Im Oktober 1986 beginnt dann vor dem Landgericht in Wuppertal der juristische Showdown.

«Dort sitzt er, immer lächelt er»

Der Wuppertaler Auschwitz-Prozess dauert 16 Monate und macht deutlich, wie schwierig die Beweisführung ist – über 40 Jahre nach den verübten Greueltaten im Konzentrationslager. Es gibt keine sterblichen Überreste der Opfer, geschweige denn Obduktionsberichte. Nicht einmal ihre Identität ist bekannt, schon die zeitliche Eingrenzung eine Herausforderung. In der Anklage heisst es dann zum Beispiel: «an einem nicht näher bestimmten Tag im Juni/Juli 1944». Kommt hinzu, dass die am Prozess aussagenden ehemaligen SS-Männer noch einmal ihren Korpsgeist demonstrieren: Sie zeigen sich zwar gesprächig, aber wenn es um den Beschuldigten Gottfried Weise geht, mögen sie sich plötzlich an nichts mehr erinnern.

Die Anklage muss sich vor allem auf die Aussagen ehemaliger Häftlinge stützen. Die Schilderungen der Zeuginnen und Zeugen, die zum Teil gar nicht in Deutschland vor Gericht aussagen wollten, haben es in sich: Der Horror, den sie erlebten, lässt sich kaum in Worte fassen. Gottfried Weise wird als «Bestie», als «teuflischer Peiniger» beschrieben. Der Angeklagte hingegen erklärt zu Prozessbeginn, er habe «keine Abneigung gegen Häftlinge» gehabt und sie nur in Einzelfällen geschlagen, «um ihnen härtere Strafen zu ersparen». Von seiner Dienstpistole habe er nie Gebrauch gemacht. Danach lehnt er sich zurück und verweigert jede weitere Aussage.

Schnell wird klar, dass Weise in Auschwitz nicht «Kassenhilfsbuchführer» gewesen ist, wie er einst behauptete. Er war in den sogenannten Effektenlagern tätig. Dort mussten die im Kommando «Kanada» eingeteilten Häftlinge die Habseligkeiten der in Viehwaggons im KZ eintreffenden Neuankömmlinge «abfertigen», sprich: auseinandernehmen und sortieren. Unter Aufsicht des SS-Mannes Weise.

Gemäss Anklage waren die Häftlinge für ihn «Staatsfeinde, die keinerlei Milde verdienten und die es auszurotten galt». Von «grenzenlosem Sadismus» ist die Rede. Weise beschimpfte, erniedrigte und misshandelte, er schlug mit dem Spazierstock so hart zu, bis dieser brach, er knüppelte männliche und weibliche Häftlinge, bis sie sich nicht mehr regten. Einer Schwangeren trat er mit den schweren Stiefeln gegen den Bauch. Zu seiner Belustigung liess er «Sportübungen» durchführen: Die bereits entkräfteten Lagerinsassen mussten auf sein Kommando hin abwechselnd «kriechen, hüpfen, spurten, robben». Mehrere Fälle werden geschildert, in denen der Aufseher Weise Häftlinge erschoss, weil ihm ihr Tun missfiel.

Die Insassen nannten ihn wegen seines verletzten Auges den «Blinden» oder den «Einäugigen». Aber eben auch «Wilhelm Tell von Auschwitz» – wegen seiner «Schiessübungen».

Am Prozess werden zwei Fälle prominent verhandelt. Im ersten geht es um einen sechs- bis zehnjährigen Jungen, der frisch im Lager eingetroffen war und weinend bei einer Baracke stand. Weise ging laut Zeugenaussagen auf ihn zu, stellte ihm drei leere Konservendosen auf den Kopf und die Schultern. Das Kind, starr vor Schreck, liess die Schüsse aus wenigen Metern Entfernung über sich ergehen. Als der SS-Mann die Lust an diesem «Spiel» verlor, schoss er dem Jungen mitten ins Gesicht. Der zweite Fall betrifft ein 17 bis 18 Jahre altes Mädchen, dem Weise ebenfalls mehrfach eine Blechdose vom Kopf schoss – bis er ins Gesicht zielte.

Gross ist das Unbehagen einiger Zeugen, wieder im gleichen Raum mit dem ehemaligen Aufseher zu sein. Ein Mann sagt: «Ich lebe es immer mit, wenn ich erzähle. Ich leide noch heute darunter.» Eine Frau zeigt mit dem Finger auf Weise: «Dort sitzt er, immer lächelt er, auch dort lächelte er.»

Im Chalet in Faulensee

Im Januar 1988 verurteilt das Landgericht Wuppertal Gottfried Weise wegen fünffachen Mords zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe. Doch dieser beantragt Revision, bleibt sogar gegen 300 000 Mark Kaution auf freiem Fuss, da das Urteil noch nicht rechtskräftig ist und die Richter keine Fluchtgefahr sehen. Rechtsextreme Kreise unterstützen ihn, eine Verteidigungsschrift erscheint: «Der Fall Weise – ein ‹Lebenslänglicher› fordert Gerechtigkeit». Im April 1989 bestätigt schliesslich der Bundesgerichtshof die lebenslange Strafe in drei Mordfällen. Auf undurchsichtige Art erhält Weise dieses letztinstanzliche Urteil früher zugestellt als die Vollzugsbeamten. Er nutzt den Vorsprung, um unterzutauchen.

Auf welchen Wegen der Deutsche in die Schweiz gelangt, ist nicht bekannt. Tatsache ist, dass er sich bis zu seinem Schlaganfall im Ferienort Faulensee am Thunersee aufhält. Er kommt bei einem Bauer unter, logiert in einer Einzimmerwohnung in dessen Chalet, gibt sich als netter Pensionär, der auch einmal kleine Arbeiten auf dem Hof ausführt. Während dreier Monate bleibt er dort unentdeckt – weder eine deutsche Sonderkommission kommt ihm auf die Spur, noch helfen die TV-Sendung «Aktenzeichen XY» und die Belohnung von 10 000 Mark für sachdienliche Hinweise.

Nach seiner Festnahme im Spital wollen die Schweizer Behörden den verurteilten NS-Verbrecher so schnell wie möglich loswerden. Zu ihrem Glück erklärt sich Weise bereit, freiwillig nach Deutschland auszureisen – sonst hätte der Gesamtbundesrat über die Auslieferung befinden müssen. Schon am 28. Juli 1989 hebt der Helikopter des deutschen Bundesgrenzschutzes mit Weise an Bord vom Flugplatz Bern ab.

Gerätselt wird derweil noch, ob der Deutsche in der Schweiz Unterstützer gehabt habe. Die Bundesanwaltschaft kommt später zu dem Schluss, dass Weise keine Kontakte zu rechtsextremen Gruppen in der Schweiz unterhalten hat. Der Lausanner Holocaustleugner Gaston-Armand Amaudruz bedauert in seinem Rassistenblatt «Courrier du Continent»: «Wir kennen Gottfried Weise nicht. Aber mit Vergnügen hätten wir ihn beherbergt, um ihn vor der Auslieferung zu bewahren.»

Gottfried Weise sitzt fortan in Bochum hinter Gittern. Aber bereits 1997 wird seine Strafe vom Justizminister Nordrhein-Westfalens «aus humanitären Gründen» ausgesetzt. Der damalige Ministerpräsident Johannes Rau spricht eine «Haftverschonung auf dem Gnadenweg» aus. Das führt zu Protesten, worauf die Behörden immerhin die «Kriegsopferrente» streichen, die der Nazi-Scherge wegen seiner Verletzung an der Ostfront während Jahrzehnten erhalten hat. Im Jahr 2000 stirbt Weise an seinem Wohnort in Solingen.