Der Rapper gegen den Bundesrat

Stress ist der meistgehörte Rapper der Schweiz. Seine Musik will die Stimmung des Landes spiegeln. Bei der SVP sorgt sie für Misstöne. Von Sacha Batthyany

Hier entstand also die neue Schweiz. Im Keller eines schmucklosen Hauses in Lausannes Industriequartier. Dreissig Quadratmeter, nicht mehr, auf dem Boden liegen ein paar Bierflaschen, der Teppich war irgendwann einmal blau, die Luft riecht nach Gras, doch mit der guten alten Rütliwiese hat das hier gar nichts zu tun.

In «Renaissance», dem neuen Album von Stress, wird die alte Schweiz zu Grabe getragen, «denn», so sagt der studierte Ökonom, «die alte Schweiz ist tot». Auf der Foto im Beiheft der CD sieht man ihn neben einem Grabstein stehen, «Schweiz 1291-2006», er wirft Blumen aufs Grab und sieht aus, als ob er sagen wollte: «Seid ihr bereit für einen Neuanfang? Für die Musik der neuen Schweiz? Für eine Renaissance?» Und während seine Bandmitglieder Caroline, Vulzor und Simon anfangen, die neuen Stücke zu üben, und immer wieder über dieselbe Stelle stolpern, sagt Stress: «Die Schweiz ist keine Insel mehr, wo Beruf und Leben sicher sind. Wo jeder eine Lehre macht, heiratet, ein paar Kinder kriegt und vier Wochen in die Ferien fährt. Das war einmal. Das ist Old School, tu comprends?» Die neue Schweiz klinge anders.

«Wie klingt die neue Schweiz?»

«Sie ist dynamischer, offener, lebendiger, gleichzeitig aber auch konfus, frustriert und unbehütet.» Kein Wunder, habe die Jugend von heute den Boden verloren. «Wer will denn schon Bäcker werden, wenn er in einem Monat Music-Star werden kann?» Oder Viva-Moderator. Oder Supermodel. Oder alles zugleich. «Wer will heute noch sparen und arbeiten, wenn im Fernsehen dauernd von Konsum und Erfolg die Rede ist?» Wer wolle heute noch die Sexualität mit 17 entdecken, wenn er mit 12 alle Pornos der Welt aufs Handy laden könne. «Dazu kommen unsichere Arbeitsverhältnisse, geschiedene Eltern, die Jugendlichen fühlen sich ausgestossen, gelangweilt und verloren.»

«Seebach», Massenprügeleien und Alkohol-Orgien, das seien die realen Folgen. «Davon handelt meine Musik. Das ist Hip-Hop, tu comprends?» Und er dreht sich zu seinen Bandmitgliedern um, hält ihnen die Titelseite der Gratiszeitung «20 minutes» vors Gesicht, auf der vom angeblichen Skandal ihres Videos «Mais où?» die Rede ist und sagt: «Wir kommen ins Gefängnis.» Sie grölen ein wenig, versuchen den deutschen Text zu übersetzen, «SVP» liest einer, «Christoph Mörgeli» der andere, «c’est incroyable», sagt Stress. Unglaublich?

Dabei war doch alles vorauszusehen. Schon auf dem letzten Album, 2005, sang Stress mit zwei anderen Rappern das Lied «F*ck Blocher», das bei angetrunkenen Open-Air-Besuchern in der Schweiz, also 90 Prozent, auf regen Beifall stiess. Nun hat Stress in einem Videoclip eine Szene eingebaut, in dem er eine Person, die eine Christoph-Blocher-Maske trägt, in zweideutiger Pose auspeitscht, worauf das Gratisblatt «20 minutes» titelte: «Bundesrat Blocher wird von hinten penetriert. Rechtliche Schritte werden geprüft.»

«Spätpubertäre Auswüchse», sagt Nationalrat Mörgeli, Bundesrat Blocher, der Gepeitschte, ist zu keiner Stellungnahme bereit, und Stress sagt: «Ich tu doch nur, was die SVP die ganze Zeit tut.» Er benutze dieselbe Waffe: Provokation. Klar sei es kindisch, «doch uns hört ja sonst niemand zu». Schon beim Lied «F*ck Blocher» ging es ihnen nicht um den Bundesrat, sondern darum, die Jungen zum Wählen aufzufordern. «Wir wollten sagen: ‹Ihr könnt was tun. Ihr könnt was verändern.›» Hätten sie das Lied «Allez voter!» genannt, wäre die Wirkung verpufft. Er könne verstehen, wenn sich jemand darüber ärgere, «aber ich ärgere mich auch über die aktuelle SVP-Kampagne. Da ist ein Jugendlicher zu sehen, der aussieht wie ein Hip-Hopper, mit Kapuzenpulli, wie ich einen trage», und darunter stehe: 185 Prozent mehr Gewalt durch ausländische Jugendliche. Er habe Statistik studiert und wisse, wie einfach es sei, Zahlen zu missbrauchen. «Die SVP verschweigt, dass die Zahl der Schweizer Täter noch viel dramatischer gestiegen ist.»

Da sei sie wieder, diese Angst-Politik, dieses Insel-Denken, das er so satthabe. «Ausländer sind schuld! Hip- Hopper sind schuld! Die Jugend von heute! Alles Kriminelle!» Er habe keine Lust mehr, den Methoden der SVP tatenlos zuzusehen, ohne zu reagieren. «Wenn die vereinfachen dürfen, darf ich das auch.»

Roman Jäggi, Pressesprecher der SVP, sagt: «Wir vereinfachen nicht. Wir nennen die Dinge nur beim Namen.» Die Jugendgewalt sei laut GfS- Forschungsinstitut Bern die Hauptsorge der Schweizer Bevölkerung im Moment. «Und die Ausländer, allen voran die Kosovo-Albaner, sind das Hauptproblem bei der Jugendgewalt, das hat schon Bundesrat Blocher gesagt.» Und was Stress anbelange, der sei durch linke Kreise instrumentalisiert worden, «schade, dabei ist das ein guter Typ». Das Video mit der Peitschenszene habe er gesehen. «Interessant ist, dass jedes Mal ein Aufschrei durch die Bevölkerung geht, wenn rechtsextreme Bands auftreten», doch bei diesem Video seien wieder einmal alle ruhig. «Solche Angriffe haben der SVP noch nie geschadet. Wir sind im Vorfeld der Wahlen, es trifft sich also ganz gut.»

Kurz bevor sich Stress eines der Mikrofone schnappt, um mit Caroline den Refrain zu üben, sagt er noch: «Ich bin kein Politiker, sondern Musiker, doch ich fühle mich verantwortlich, etwas gegen die Diffamierung der Ausländer zu tun. Ich bin ja selbst einer.» Stress, mit richtigem Namen Andres Andrekson, ist im kommunistischen Estland aufgewachsen und kam als Zwölfjähriger in die Schweiz, zuerst nach Genf, dann nach Lausanne, studierte Ökonomie und arbeitete später in der Marketingabteilung des amerikanischen Grosskonzerns Procter & Gamble, wo er für die Vermarktung des Putzmittels Meister Proper zuständig war. Ausgerechnet er, der in Jugendjahren Graffiti an Betonwände sprayte.

Dann fängt er endlich an zu rappen, Caroline singt den Refrain, Vulzor spielt Bass, Simon haut aufs Schlagzeug, «so klingt die neue Schweiz», ruft er. Es klingt wütend, sehr emotional und selten kitschig. Bei der einen Stelle fallen sie wieder alle gemeinsam aus dem Takt. Offenbar hat auch die neue Schweiz ihre Tücken.