Der Prozess im Mordfall von Allmen

Der Bund

Vor drei Jahren wurde Marcel von Allmen aus Unterseen von seinen rechtsextremen «Kameraden» getötet – jetzt stehen sie vor Gericht

Angeblich weil er das Schweigegelübde des rechtsextremen «Ordens der arischen Ritter» gebrochen hatte, musste er sterben: Der 19-jährige Marcel von Allmen wurde 2001 auf brutalste Weise getötet. Am Montag beginnt der Prozess.

Christine Brand

Der Fall ist geklärt. Die Angeklagten sind geständig. Und trotzdem wird der Prozess, der nächsten Montag in Bern beginnt, Aufsehen erregen. So, wie es bereits das Verbrechen getan hat, damals, vor mittlerweile über drei Jahren: In der Nacht auf den 26. Januar 2001 verschwand Marcel von Allmen, 19-jährig, aus Unterseen. Er habe noch mit jemandem abgemacht, hatte er seiner Freundin erzählt. Um Mitternacht wollte er zurück sein. Das war er aber nicht. Seine Leiche wurde knapp einen Monat später im Thunersee gefunden. Einen Tag danach nahm die Polizei vier junge Schweizer fest. Sie waren damals zwischen 17 und 22 Jahre alt. Und bald einmal geständig.

Ab nächsten Montag stehen drei von ihnen vor Gericht. Das Kreisgericht Interlaken-Oberhasli tagt aus Platzgründen ausnahmsweise in Bern. Nach fünf bis sieben Prozesstagen will das Gericht am 29. März urteilen und Strafen aussprechen. Das Jugendgericht hat dies in einem Fall bereits getan: Es hat den Jüngsten – er war zur Tatzeit noch nicht volljährig – wegen Mordes und unvollendet versuchten Mordes schuldig gesprochen und zu einer Vollzugsmassnahme in einem Erziehungsheim verurteilt. Die Massnahme wird längstens bis zu seinem zurückgelegten 25. Altersjahr dauern.

Der ominöse geheime Orden

Die Ermittlungen der Polizei haben Erschütterndes zu Tage gebracht. Marcel von Allmen und die vier Verhafteten waren allesamt Mitglieder einer geheimen rechtsextremen Gruppe, die sich selbst «Orden der arischen Ritter» nannte. Die Gruppe hatte sich in der Region Interlaken einen Namen gemacht. Hin und wieder war es dort zu Auseinandersetzungen zwischen ausländischen und einheimischen Jugendlichen gekommen. Marcel von Allmen, «Vöni», hatte sich wie seine Kollegen als Beschützer aufgespielt, die Mädchen vor den «ausländischen Pöblern» in Schutz genommen. Der angebliche Anführer des Ordens war der Polizei im Dorf bekannt: Er hatte 1999 auf einen Polizisten in Zivil geschossen – und war im Mai 2000 zu 18 Monaten Gefängnis bedingt verurteilt worden. Weil er glaubhaft Notwehr geltend gemacht hatte. Der Polizist hatte nur dank seiner kugelsicheren Weste überlebt. Um ihren rechtsextremen Orden zu finanzieren, begingen die Mitglieder Einbruchdiebstähle, betrieben Hehlerei, verkauften Haschisch. Und irgendeinmal planten sie den ersten Mord. Das erste Opfer, das die drei Älteren der Gruppe töten wollten, war ein jugoslawischer Staatsangehöriger, knapp 18-jährig, wohnhaft auf dem Bödeli. Er sollte Ende 1999 umgebracht werden, weil er Schweizer belästigt haben soll. Das zweite ausgewählte Opfer war ein 19-jähriger Schweizer, der von der Existenz des Ordens wusste. Es habe Differenzen gegeben. Er hätte im Herbst 2000 sterben sollen. «Sie haben Tötungen geplant und vorbereitet», sagte der zuständige Untersuchungsrichter Hans-Peter Zürcher. «Teilweise wurde die Ausführung der Tötung versucht.»

Gegen Gelübde verstossen

Dann muss es innerhalb der Gruppe zu Unstimmigkeiten gekommen sein. Von Allmen, der gerne mal einen Spruch klopfte, hatte angeblich ein Schweigegelübde gebrochen – und damit sein Todesurteil unterschrieben: Seine «Kameraden» fuhren ihn zur Ruine Weissenau, schlugen ihn dort mit einem Metallrohr brutal zu Tode, warfen ihn danach mit einem Gewicht versehen unterhalb der Beatushöhlen über die Klippen und versenkten ihn im Thunersee. Es sollte eine Hinrichtung sein wie im Film – Vorbild war Martin Scorseses «Casino». Sie entledigten sich ihres Mitglieds, weil es geplaudert hatte. Eigentlich hätte Marcel von Allmen bereits eine Nacht früher getötet werden sollen – nur weil er nicht zum abgemachten Treffpunkt erschienen war, hatte er 24 Stunden länger zu leben.

Der Prozess, auf den wegen der Verzögerung bei den psychiatrischen Gutachten dermassen lange gewartet werden musste, wird kaum Erklärungen, aber einige Antworten bringen. Er wird aufzeigen, wer welche Rolle gespielt hat, wer Haupttäter, wer Mitläufer war. In der Gemeinde Unterseen hofft man, dass mit dem Prozess endlich ein Schlussstrich gezogen werden kann. Vergessen werden soll das Geschehene nicht.

Der Tatort: Bei der Ruine Weissenau wurde der 19-jährige Marcel von Allmen umgebracht.Christian Helmle

«Die Verbrechen sind brutaler geworden»

Der Basler Soziologe Ueli Mäder über das Verbrechen von Unterseen und über Gewalttäter, die immer jünger werden

Vor drei Jahren haben Mitglieder des «Ordens der arischen Ritter» ihren «Kameraden» Marcel von Allmen getötet. Der Soziologe Ueli Mäder äussert sich im «Bund»-Interview zu diesem Verbrechen und zu jugendlicher Gewalt.

Christine Brand

«Der Bund»: Herr Mäder, Sie setzen sich in ihren jüngsten Projekten mit den Themen «Jugend und Gewalt» und «Rechtsextremismus» auseinander. Ist das unfassbare Verbrechen an Marcel von Allmen für sie fassbarer geworden?

Ueli Mäder: · Fassbarer schon; ich entdecke in dem Verbrechen einzelne Aspekte, auf die ich mir aufgrund der Gespräche mit Rechtsextremen eher einen Reim machen kann. Im Ganzen bleibt diese Tat aber unerklärlich.

Steht sie in einem direkten Zusammenhang mit dem Rechtsextremismus – oder hätte die Tat auch von einer beliebigen Jugendbande begangen werden können?

Der Rechtsextremismus spielt hier sicher eine Rolle – in rechtsextremen Kreisen besteht eine ausgeprägtere Gewaltbereitschaft. Aber diese lässt sich nie und nimmer auf dieses Milieu reduzieren.

Wie ordnen Sie die Gruppe der Jugendlichen auf dem Bödeli bei Interlaken ein, die sich «Orden der arischen Ritter» nannte?

Ich will die Gruppe nicht schubladisieren. Was auffällt: Sie knüpft an eine braune Tradition an, macht einen ideologischen Bezug zum Hitler-Faschismus und zum Dritten Reich, entstammt aber mitten aus unserer Gesellschaft, nicht aus einer benachteiligten Randgruppe. Die Mitglieder waren recht integriert. Im Musikverein. Im Sportklub. Das halte ich – nebst der schrecklichen Tat – für bedenkenswert.

Ist es ungewöhnlich, dass Rechtsextreme aus gutbürgerlichem, mittelständischem Umfeld stammen?

Nein. Das bürgerliche Milieu schliesst Gewalt, Delinquenz und Rechtsextremismus keineswegs aus. Es hängt stark von den Sozialisationsbedingungen ab, wie sich ein Jugendlicher entwickelt. Ich hatte mit etlichen straffälligen Jugendlichen Kontakt, die sagten, es sei aus der Situation heraus passiert, dass sie gewalttätig wurden. Wenn man aber genauer hinschaute, merkte man, dass sie zum Beispiel Eltern oder andere Vertrauenspersonen hatten, die es richtig fanden, dass sie zugelangt hatten.

Offenbar hat es in der Region Interlaken Auseinandersetzungen zwischen ausländischen und einheimischen Jugendlichen gegeben. Die Mitglieder des «Ordens» spielten sich als Beschützer auf. Eine ganz normale Erscheinung oder eine verfehlte Integrationspolitik?

Beides. Andere zu beschützen, hievt einen auf den Sockel, legitimiert einen, besonders zuzugreifen. Es kann ein Vorwand sein, um eigene Aggression zu kaschieren. Das ist ein ausgeprägtes Phänomen. Zudem dokumentieren schwelende Konflikte zwischen ausländischen und einheimischen Jugendlichen die gesellschaftliche Vernachlässigung der sozialen Integration.

Nähren derartige Jugendkonflikte den Rechtsextremismus?

Je nachdem schon, aber nicht zwangsläufig. Sonst müssten ganz viele Leute rechtsextrem[100] werden. Dass auf solche Konflikte nationalistisch gewalttätig reagiert wird, ist eine massive Übersteigerung.

Dass in der rechtsextremen Szene ein hohes Gewaltpotenzial vorhanden ist, ist bekannt. Im «Orden der arischen Ritter» wurde die Gewalt gegen ein Mitglied eingesetzt.

Normalerweise wird Gewalt in Form von Abgrenzung eher gegen Dritte eingesetzt. Aber gerade die Kuhstallwärme der Gemeinschaft birgt in der rechtsextremen Szene Konfliktpotenzial. Ausgrenzung schweisst extreme Gruppen zusammen. Wer von Gruppennormen abweicht, bedroht die Zwangsgeborgenheit. Dann trifft die Strenge ebenfalls eigene Mitglieder – auch zur Abschreckung.

Der «Orden der arischen Ritter» wollte aber auch andere töten. Auch Marcel von Allmen hätte bereits eine Nacht früher sterben sollen. Musste plötzlich unbedingt jemand getötet werden?

Jedenfalls fand niemand den Mut, Halt zu sagen und den Irrsinn zu stoppen. Vielleicht mussten sich die Beteiligten etwas beweisen, an das sie selbst kaum glaubten. Bei den 260 Straffälligen, die wir typisiert haben, bekamen wir das immer wieder zu hören: Man habe gar nicht gewollt, dass dies oder das passiere. Einzelne sind mitgegangen und taten dann mehr, als sie eigentlich wollten. Vielleicht sahen die Angeklagten die Planung eines Mordes als Mutprobe an – die dann realer wurde, als sie es ursprünglich gedacht hatten. Vielleicht wollte keiner das Gesicht verlieren.

Da kam die Gruppendynamik ins Spiel.

Die Gruppendynamik spielte gewiss eine Rolle. Sie wirkte wie eine Spirale nach unten. Allerdings war die Planung des Deliktes in Interlaken ausgeprägter als in anderen Fällen, die bekannt sind. Für mich bleibt die Frage offen, warum das Umfeld nicht stärker auf die rechtsextremen Aktivitäten reagierte. Die Gewaltgefahr, die von diesen Gruppen ausgeht, ist ja längst bekannt.

Einer der Angeklagten hat angegeben, dass die Tötung nach dem Vorbild eines Mordes in einem Film vollzogen wurde. Wird es unter dem medialen Einfluss immer schwieriger, die Realität von der Fiktion zu unterscheiden?

Ja. Es gibt sehr unterschiedliche Thesen zu dieser Medienwirksamkeit. Ich habe den Eindruck, dass sie schon eine Rolle spielt. Es werden Grenzen verwischt. Aber man muss bedenken, dass heute anders auf Gewalt reagiert wird. Nicht, dass ich die Gewalt banalisieren will. Wir müssen genau hinschauen, um welche Form es sich handelt und was dahinter steckt. Aber als ich jung war, konnten wir mit dem Luftgewehr im Wald herumschiessen, wir konnten sehr viele Sachen machen, für die wir heute kriminalisiert würden. Auch bei uns gab es Schlägereien – heute käme die Polizei.

Heute aber wird brutaler zugeschlagen – ich denke an den Überfall in der Berner Postgasse oder auch an den Mord an Hans Haldemann, der sich Monate nach dem Fall von Allmen ereignete. Werden die Verbrechen immer brutaler und die Täter immer jünger?

Die Täter sind jünger und die Verbrechen brutaler geworden. Das hat etwas mit dem Zugang zu den Waffen und den medialen Vorbildern zu tun. Es findet in verschiedenen Bereichen eine Brutalisierung statt: Alles muss sich immer noch mehr steigern und noch extremer werden. Und es gibt Hemmschwellen, die sinken: Frü-her war meistens Schluss, sobald Blut floss. Heute macht Blut keinen grossen Eindruck mehr.

Gibt es ein Rezept, wie diese Entwicklung gebremst werden könnte?

Was hilfreich sein könnte: Jugendliche müssen spüren, dass sie gefragt sind. Sie sollen sich einbringen können, in der Familie, der Schule, am Arbeitsort. Auch ein Schritt hin zum sozialen Ausgleich wäre förderlich. Und: Dem heutigen Trend, dass immer mehr simplifiziert und pauschalisiert statt mühsam differenziert wird, muss entgegengewirkt werden.

Ueli Mäder ist Professor für Soziologie an der Uni Basel und der Hochschule für Pädagogik und Soziale Arbeit beider Basel. Er leitet mit Wassilis Kassis ein Nationalfondsprojekt über die Ausstiegsmotivation rechtsextremer Jugendlicher.