Bezirksgericht Winterthur: Freispruch trotz Antisemitismus.

Tages-Anzeiger. Der ehemalige Besitzer des Grabebeck und des Holzofebeck teilte online Videos über eine jüdische Weltverschwörung. Trotzdem wurde er freigesprochen: Es sei nicht erwiesen, dass er den Antisemitismus darin erkannt habe.

Urs Gerber ist kein auffälliger Mann: graues kurzes Haar, Jeans und Sneakers, ein goldener Ohrring, eine ruhige Stimme. Erst als der 61-Jährige zu sprechen beginnt, wird klar, warum er an diesem Freitag vor dem Bezirksgericht Winterthur stand: «Es gibt eine Gruppe von Leuten, die überall alles unterwandert hat», sagte Gerber. «Anders kann man sich die Sachen, die in der Welt abgehen, nicht mehr erklären.»

Wen der Bäckereiunternehmer hinter dieser weltweiten Verschwörung vermutet, wird in 18 Videos klar, die er online teilte und wegen derer er sich vor Gericht verantworten musste. Darin geht es über mehrere Stunden darum, wie angeblich eine Gruppe südrussischer Juden – Chasaren genannt – seit vielen Jahrhunderten Teil einer Verschwörung sei. Diese wolle die Weltherrschaft erringen und den Grossteil der Menschheit umbringen. Hinter allen grossen Kriegen und Seuchen der Menschheitsgeschichte stehe diese «Chasaren-Kabale».

Diese Zeitung berichtete im Oktober 2021 über die Videos, die damals von einer Expertin der Stiftung gegen Rassimus und Antisemitismus als voller judenfeindlicher Klischees eingestuft wurden. Die Staatsanwaltschaft nahm daraufhin Ermittlungen wegen einer möglichen Verletzung der Rassismusstrafnorm auf. Im Januar dieses Jahres wurde Gerber wegen Diskriminierung durch das Verbreiten von Ideologien angeklagt. Die Staatsanwaltschaft forderte eine bedingte Geldstrafe von 7200 Franken.

Umsatzeinbruch in den Bäckereien

In Winterthur ist Gerber als Besitzer des Grabebeck und des Holzofebeck bekannt. Wie er nun vor Gericht sagte, musste er seine Bäckereien im Herbst verkaufen und ist dort inzwischen nur noch Angestellter. Aufgrund der Berichterstattung seien viele Kunden weggeblieben, und der Umsatz sei eingebrochen.

Das Gerichtsverfahren ist von daher ein Schlusspunkt unter der Episode, die begann, als Gerber im Jahr 2021 die 18 Videos der Serie «Der Fall der Kabale» auf die Website seines Fotostudios hochlud. Erstellt hat die Videos eine niederländische Anhängerin von QAnon, einem amerikanischen Onlinekult, der an eine weltweite satanistische Verschwörung und an Donald Trump als Erlöser glaubt.

Dass die Videos antisemitisch seien, wollte Gerber vor Gericht weder bestätigen noch abstreiten. «Das ist schwierig zu sagen», antwortete er auf mehrmalige Nachfrage des Richters. Er selbst habe nie etwas gegen Juden gesagt oder gehabt – nur eben gegen jene «Chasaren». Wieder und wieder betonte er: «Es geht mir um die Taten der Chasaren, nicht um ihre Religion.» Für ihn seien die Chasaren auch gar keine richtigen Juden.

Mehrfach versuchte der Richter, durch Fragen herauszuspüren, wie bewusst sich Gerber eigentlich dessen ist, was er verbreitete. «Wie genau haben Sie die Videos angeschaut?», wollte er wissen. Und: «Haben Sie schon davon gehört, dass Juden in Verschwörungserzählungen oft nur verdeckt genannt werden?» Oder: «Glauben Sie nicht, dass alle erfolgreichen Juden riskieren, in diesen Topf geworfen zu werden, wenn prominente Juden so dargestellt werden?» Gerber ging nicht gross darauf ein: «Das kann ich mir nicht vorstellen», antwortete er auf die letzte Frage.

Auf Propaganda hereingefallen?

Wenn er doch mal ins Reden kam, begab sich Gerber auf heikles Terrain. So beschuldigte er vor Gericht zum Beispiel die reiche jüdische Familie Rothschild, den Holocaust finanziert zu haben. Ein anderes Mal erwähnte er ein Interview mit einem amerikanischen Rabbi, der angeblich zugab, dass Juden systematisch nicht jüdische Kinder töten und essen würden. Das Interview ist allerdings eine Fälschung eines amerikanischen Rechtsextremisten.

Mehrmals sagte Gerber, die Macherin der Videos habe sich das alles «ja nicht einfach aus den Fingern gesogen». Er fügte an: «Das stelle ich mir auf jeden Fall so vor.» Gerber, so der Eindruck, den er vor Gericht machte, ist selbst in gewissem Masse Opfer antisemitischer Propaganda geworden. Er habe nie eine böse Absicht gehabt, betonte er. «Im Gegenteil: Ich wollte Hilfe leisten und die Leute zum Nachdenken anregen.»

Sein Verteidiger forderte darum einen Freispruch. Gerber sei ein Menschenfreund, mit einer ausländischen Frau verheiratet und stehe darum nicht im Verdacht, ein Rassist zu sein. Zudem gehe es in den mehrstündigen Videos nur während rund dreier Minuten explizit um Juden – Codenamen wie Chasaren nahm er dabei allerdings aus. Da Zweifel bestünden, dass Gerber bewusst antisemitische Inhalte verbreitet habe, gelte der Grundsatz «Im Zweifel für den Angeklagten».

Zum Schluss eine Belehrung

Dem folgte dann auch das Gericht. Zwar seien die Videos eindeutig antisemitisch und würden die Würde jüdischer Menschen herabsetzen. «Es handelt sich um schreckliche Vorwürfe, die typischerweise gegen Juden gemacht werden», so der Richter. Allerdings: Der Antisemitismus in den Videos sei nicht völlig offen, sondern verschachtelt. «Das macht es nicht besser.» Das Gericht habe aber «erhebliche Zweifel», dass Gerber der Antisemitismus in den Videos wirklich bewusst war. «Sie haben glaubhaft gemacht, dass Sie nicht vorsätzlich Antisemitismus verbreitet haben.» Keine Erwähnung fand, dass Gerber die Videos erneut hochlud, nachdem der erste Artikel dieser Zeitung zu deren problematischem Inhalt bereits veröffentlicht worden war.

Der Richter beendete den Prozess mit einer Belehrung des Freigesprochenen: Er las einen Artikel von Dina Wyler von der Stiftung gegen Rassimus und Antisemitismus vor. Ob dies bei Gerber zu einer Einsicht führte, bleibt offen. Eine entsprechende Frage dieser Zeitung wollte er nach dem Prozess nicht beantworten.


Kabale und Chasaren – was ist der Unterschied?

Eine Kabale bezeichnet eine Intrige, ein Komplott oder eine im Verborgenen betriebene Machenschaft. So auch im Titel von Friedrich Schillers «Kabale und Liebe»: Das Theaterstück handelt von einer Liebe, die durch niederträchtige Intrigen (Kabale) zerstört wird. Das Wort stammt vom hebräischen Kabbala ab, einer mystischen Tradition des Judentums. Deshalb wird in antisemitischen Kreisen mit «Kabale» auch oft eine Elite von Juden bezeichnet, die heimlich die Weltherrschaft an sich reisst. So auch im Titel der von Urs Gerber verbreiteten Serie «Der Fall der Kabale».

Die Chasaren waren ein nomadisches Volk, das im 7. Jahrhundert im nördlichen Kaukasus ein unabhängiges Reich gründete. In den zwei Jahrhunderten danach konvertierten die Chasaren – so eine populäre, aber umstrittene historische Theorie – teilweise zum Judentum. Die Gründe dafür sind unklar – möglich ist, dass sie an der Schnittstelle zwischen Christentum und Islam neutral bleiben wollten. Laut historisch widerlegten Verschwörungstheorien soll dieses Volk sich später über Europa verbreitet haben und die Vorfahren der europäischen Juden sein, wo ihm schon seit dem Mittelalter Kinderopfer und der Hunger nach Weltherrschaft zugeschrieben werden. Der Begriff «Chasaren» findet zunehmende Beliebtheit unter Antisemiten als Codewort für Juden allgemein. (mub)