Interview zu Schweizer Reichsbürgern: «Sie denken: ‹Ich bin das Opfer, das vom Staat drangsaliert wird›»

Der Bund. Forensiker Jérôme Endrass erklärt, was die reichsbürgerähnlichen Bewegungen in der Schweizvon den Deutschen unterscheidet – und wie man mit ihnen umgeht.

Herr Endrass, in Deutschland gab es letzte Woche erneut Razzien bei mutmasslichen Reichsbürgern, zwei Hausdurchsuchungen und Strafverfahren auch in St. Gallen. Was wollen deutsche Reichsbürger in der Schweiz?

Alle Formen von Extremismus schwappen von kulturell nahe liegenden Räumen zu uns rüber. Auch die Reichsbürgerideologie. Hier wird sie quasi «eingeschweizert» – also abgeschwächt.

Was meinen Sie mit «abgeschwächt»?

Die Ideologie ist gleich, aber die Handlungsrelevanz geringer und die Vehemenz, mit der die Ideologie verfolgt wird, schwächer. Das sehen wir nicht nur bei den Reichsbürgern, sondern auch bei anderen Formen von Extremismus: Menschen, die eine Kippa tragen, berichten beispielsweise in der Schweiz von weniger Anfeindungen als in Berlin. Es gibt hier glücklicherweise auch keine No-go-Areas für Minoritäten, Asylheime brennen nicht.

Was macht die Schweiz besser?

Wir sind zwar nicht immun gegen extreme Überzeugungen, aber die Schweiz ist diskursiver. Es wird viel debattiert. Und wir sind kleinräumig, haben also eine hohe gesellschaftliche Kontrolle. Das hat zwar auch Nachteile, aber eben auch einige Vorteile.

Die Reichsbürger-Ideologie ist also gar nicht gefährlich?

Forensisch gesehen momentan nicht. Die schweren Straftaten bleiben bisher aus. Und die Chancen stehen gut, dass das so bleibt.

Während unserer Recherche sind wir vielen Menschen begegnet, die sich vom deutschen Reichsbürgerdiskurs anziehen lassen. Sie wenden sich von den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit ab. Was sind das für Menschen?

In der Forensik gehen wir von drei verschiedenen Profilen aus: Querulanten, paranoide Persönlichkeiten und Verschwörungstheoretiker. Natürlich gibt es Überschneidungen.

Was macht einen Querulanten aus?

Querulanten konstruieren den Konflikt selbst und erleben ihn als identitätsstiftend. Sie sind gewissermassen streitsüchtig. Es lenkt sie vom eigenen Scheitern ab. Sie sind oft im fortgeschrittenen Erwachsenenalter. Als sie jünger waren, eckten sie zwar an, fielen aber nicht völlig aus dem Rahmen. Mit der Zeit wurden sie immer sperriger. Freunde wandten sich ab, die Beziehung zur Familie wurde mühsam. Ist es einmal so weit, reicht ein kleiner Konflikt mit einer Behörde, einem Nachbarn, um einen scheinbar unlösbaren Streit loszutreten.

Der Querulant wird dann zum Verschwörungstheoretiker?

Nicht alle. Aber gerade die Reichsbürgerszene kann sowohl für Querulanten als auch für Verschwörungstheoretiker eine Heimat bieten.

Inwiefern?

Querulanten denken: «Ich bin das Opfer, das vom Staat drangsaliert wird.» Der Verschwörungstheoretiker denkt: «Es gibt eine kleine Gruppe von Verschwörern, die uns drangsaliert.» Verschwörungstheoretiker können Querulanten mit zusätzlichem Material versorgen. Daraus können dann groteske, unerfüllbare Forderungen resultieren. Wie etwa, dass keine Steuern mehr gezahlt werden müssen. Die gemeinsamen Narrative wirken verbindend. So kann aus einzelnen Querulanten und Verschwörungstheoretikern eine kleine Szene heranwachsen.

Wir haben aber auch eine libertäre Haltung beobachtet: Kleinunternehmer, die sich durch Corona scheinbar gekränkt fühlten. Wo sind sie einzuordnen?

Viele Menschen haben sich über die Einschränkungen während Corona geärgert. Aber nur wenige konnten sich nicht mehr von ihrem Ärger lösen und waren gar nicht mehr an einer Lösung interessiert. Das ist das Querulatorische. Das geht bis hin zu Leuten, die komplett mit der Gesellschaft brechen.

Wieso war Corona so ein Booster für Verschwörungserzählungen?

Die Pandemie war eine Stresssituation. Niemand hat das Virus verstanden. Die Verunsicherung halten einige besser aus als andere. Es ist einfacher, zu glauben, dass es die chinesische Regierung war, die das Virus gezielt einpflanzte. Verschwörungserzählungen haben immer etwas Entlastendes.

Unser Eindruck: Es gibt eine Grundarchitektur, verschiedene Bewegungen in der Schweiz, die eine Parallelgesellschaft aufbauen wollen. Sie stehen allerdings noch am Anfang. Wie ernst muss man sie nehmen?

Demokratisch gesehen ist es problematisch, wenn ein Teil der Gesellschaft sagt: «Für uns gelten Fakten aus Medienberichterstattung und Wissenschaft nicht mehr, alle Politiker sind unfähige, korrupte Lügner.» Wo das hinführen könnte, sieht man mit Blick in die USA. Auch da kommen Verschwörungserzählungen immer in Wellenbewegungen. Die Heftigkeit dieser Bewegungen ist beeindruckend.

In den USA waren Bürgerinnen und Bürger am 6. Januar 2021 mit dem Sturm aufs Capitol bereit, die Handlungsschwelle zur Gewalt zu überschreiten – angetrieben durch Verschwörungstheorien. Bei uns undenkbar?

Da sind wir weit davon entfernt. Schweizer lassen sich offensichtlich weniger schnell mobilisieren. Es gibt fast keine Massenphänomene, die Menschen auf die Strasse treiben. Wir haben keine zu mächtigen Organisationen, wir haben keine einzelne zu starke Partei, die alle anderen überschattet, und keine Medien wie Fox News, die Verschwörungserzählungen an ein Millionenpublikum aussenden.

Während Corona gab es jedoch fortlaufend Demos. Am 11. März an der «Demonstration für Frieden» riefen Freiheitstrychler den nationalsozialistisch konnotierten Spruch «Harus!» …

… und in der Schweiz gibt es einen Aufschrei. Klar müssen wir diese Tendenzen ernst nehmen. Antisemitismus, Rassismus gegen Schwarze, gegen Muslime und gegen Fahrende ist in der Schweiz vergleichbar verbreitet wie in anderen europäischen Ländern auch. Je nach Untersuchung betrifft dies knapp ein Drittel der Bevölkerung. Aber im Vergleich zu anderen Ländern schlagen diese Vorurteile nicht so aggressiv ins Verhalten durch.

Zurück zu den Querdenkern. Viele propagieren Selbstversorgung,  schwören auf die Heilkraft von Kräutern. Grün, esoterisch und extrem?

Je ausgeprägter esoterische Tendenzen sind, desto mehr spricht eine Person auf Verschwörungserzählungen an. Und ohne Verschwörungserzählung kann man keine extremistische Bewegung aufbauen. Rationale Überzeugungen, nüchterne Analysen und Fakten machen Menschen nicht extrem. Das Grundnarrativ von Verschwörungserzählungen bleibt gleich: Eine kleine Gruppe will uns fertigmachen. So finden Menschen mit völlig unterschiedlichen politischen Grundeinstellungen zusammen.

Viele Behauptungen sind teilweise nachvollziehbar. Die Pharma macht viel Geld. Die Boni der Banker sind ungerechtfertigt. Kritisch zu sein, ist auch gut für eine Demokratie. Wann passiert der Sprung in die Verschwörung?

Die Grundidee kann einen plausiblen Kern gehabt haben. Nur lösen sich Verschwörungstheoretiker komplett vom gemeinsamen Kitt im Rechtsstaat. Kennzeichnend ist also, dass sie nicht mehr erreichbar sind für andere Meinungen, für Fakten. Ihre Theorie nimmt in ihrem Leben sehr viel Raum ein. Im Kern sind Verschwörungstheorien zudem fast immer antisemitisch.

In Deutschland gibt es immer wieder Einzeltäter, die sich radikalisieren. Nachweislich genährt durch solche Theorien. Könnte das auch in der Schweiz passieren?

Diese Gefahr ist grundsätzlich immer da. Die grosse Mehrheit der Radikalen – aber eben nicht Gewaltbereiten – schafft die Grundlage und die Legitimität für einzelne Spinner, die dann die Schwelle zur Gewalt überschreiten. Dieses Grundmuster sieht man in allen Formen des Extremismus.

Was können Behörden tun, um Entwicklungen wie die Entstehung der Reichsbürger oder die Verbreitung von Verschwörungstheorien zu unterbinden?

Eine Menge. Je häufiger ein Staat seine Bürgerinnen und Bürger betrügt und belügt, desto eher steigt die Bereitschaft, an eine Verschwörung zu glauben. In Ostdeutschland sprechen die Menschen viel eher auf Verschwörungstheorien an, weil sie in der DDR häufiger belogen, bespitzelt und betrogen wurden.

Ein DDR-Zustand war das während der Pandemie aber nicht.

Natürlich nicht. Wir gehörten zu den wenigen Ländern, in denen über Corona-Massnahmen abgestimmt werden konnte – der Rechtsstaat hat funktioniert. Aber Corona-kritische Menschen fühlten sich zum Teil in eine Ecke gedrängt. Stigmatisiert. Auf Twitter gab es den unsäglichen «Covidioten»-Hashtag. Und das ist der beste Nährboden, um Verschwörungserzählungen zu festigen.

Die Gesellschaft ist schuld?

Ich meine, wir sollten eine Lehre daraus ziehen. Und zwar sollten wir Wissenschaftler uns selbst an der Nase nehmen. Wir hätten viel mehr in die Kommunikation investieren müssen. Befürchtungen und Ängste hätten antizipiert werden sollen. Klar hätte man nicht alle erreicht. Aber einen relevanten Anteil derjenigen, die sich abgehängt fühlen, hätte man nicht an die Extremisten verlieren müssen.

Konkret: Wenn mein Nachbar plötzlich anfängt, an Verschwörungstheorien zu glauben – was kann ich tun?

Selbstverständlich sollte man eine klare Haltung zeigen. Aber stigmatisieren Sie nicht die Person. Fokussieren Sie auf das, was uns verbindet. Und das ist überraschend viel. Der Umgang mit Verschwörungstheoretikern ist zwar alles andere als einfach – die Ausgangslage ist aber nicht hoffnungslos.


Was sind Reichsbürger?

Reichsbürger lehnen alles ab, was mit dem von ihnen nicht akzeptierten Staat zu tun hat, statten sich mit eigenen Ausweisen und eigenem Recht aus oder gründen kleine Scheinstaaten. Sie glauben einer Verschwörungserzählung, wonach wahlweise die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, der Schweiz oder Österreich nicht gilt. (dsa, anp)