Wie Neonazis junge Menschen anlocken

Der Bund. Die Junge Tat, eine neue Gruppierung militanter Rechtsextremer, soll das Nachwuchsproblem lösen. Der Nachrichtendienst ist besorgt und warnt vor einer Zunahme der Gewalt.

Sie lassen ihre Muskeln spielen, tragen grüne Sturmhauben und marschieren mit brennenden Fackeln durch die Dämmerung. Auf weissen T-Shirts steht vorne «Junge Tat» und auf der Rückseite «NAF», die Abkürzung der Nationalen Aktionsfront, einer Dachorganisation Deutschschweizer Neonazigruppen.

Wenn die Junge Tat, kurz JT, unterwegs ist, wird meistens gefilmt. Und daraus entstehen nachher professionelle Propagandavideos, mit denen die Gruppierung in den sozialen Medien Sympathisanten und Mitglieder anzuwerben versucht. Die JT, die auch aus der Winterthurer Eisenjugend hervorging, ist seit Ende 2020 die mit Abstand aktivste rechtsextreme Bewegung der Deutschschweiz.


Frauen in der Männerdomäne

Längst ist sie über die Region Winterthur hinausgewachsen. Sympathisanten gibt es inzwischen in mehreren Kantonen, zum Beispiel in St. Gallen und im Wallis. Anfänglich war die Gruppierung eine reine Männerveranstaltung, nun tauchen aber immer öfter Frauen auf. Auch ihre Gesichter werden auf den Propagandabildern unkenntlich gemacht.

Was sind das für Menschen, die ihr Gesicht nicht zeigen wollen? Wer versteckt sich hinter den grünen Masken mit der weissen Tyr-Rune, einem nach oben gerichteten Pfeil? Diese Zeitung hat sich während Monaten auf die Fährte der JT gemacht. Auf Medienanfragen reagiert die JT nicht. Sprechen wollten am Ende nur wenige Anhänger – und wenn, dann schwiegen sie sich über ihre eigene Rolle meist aus oder schwärzten höchstens andere an. Wir haben deshalb unzählige Hinweise ausgewertet, welche die Rechtsextremisten mit ihrer Propaganda hinterlassen haben. Neben Videos und Fotos auch Spuren wie Sticker, welche die JT und ihre Vorgängerorganisation Eisenjugend im öffentlichen Raum hinterlassen haben.

Anfang 2020 verklebte der Chef der Eisenjugend das Eingangsportal des TX-Group-Hauptgebäudes in Zürich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion mit antisemitischen Stickern. Darauf war neben Davidsternen auch der Name «Alldeutsche Heimatfront» zu sehen. Diese «Front» verfügte über nicht viel mehr als ein – inzwischen gelöschtes – Twitter-Konto. Sie setzte sich nach eigenen Angaben für die «Volkserhaltung» sowie den Tier- und Naturschutz ein, beliebte Themen von Neonazis also.

Mehr als ein Jahr später stösst diese Zeitung wieder auf einen grossen Kleber der Heimatfront, diesmal im Kanton St. Gallen. «Ehre deine Ahnen», heisst es darauf. Ganz in der Nähe hat die Junge Tat eine Bushaltestelle mit Klebern verunstaltet, «Tradition verteidigen» steht da. Ausserdem sind ein tanzendes Paar in Volkstracht und ein vermummter Boxkämpfer abgebildet. Ein paar Schritte weiter empört sich ein Dorfbewohner darüber, dass sein Auto mit solchen Stickern übersät wurde.


Verbindungen zu Freikirchen?

Die Spur der Kleber führt von da leicht den Hang hinauf, zum Fuss der Voralpen. Wir klingeln bei der Familie Saner (Name geändert), die ein Haus mit kleinem Garten bewohnt. Das kurze Gespräch verläuft harzig. Einer der Söhne, der im Militär eine Scharfschützenausbildung durchlaufen hat, öffnet die Haustür und sagt auf eine entsprechende Frage, dass man mit der Jungen Tat nichts zu tun habe. Später fragen wir Vater Saner, ein Mitglied der lokalen SVP, am Telefon, wie es dazu kam, dass einer seiner Söhne auf einem Foto zu sehen sei, wie er Kraftsport im Garten des Einfamilienhauses betreibe – eine grüne Sturmhaube neben sich, die wie jene der Jungen Tat aussehe. Bilder könnten alles zeigen, antwortet der Vater, es sei wahrscheinlich eine Fälschung. Überhaupt glaube er, dass die meisten Journalisten sich nicht an die Wahrheit hielten. Er hingegen sage die Wahrheit.

Diese Zeitung verfügt auch über Bildmaterial, das JT-Mitglied Remo Kuster (Name geändert), einen ehemaligen Nachbarn der Familie, beim Muskeltraining in Saners Garten zeigt – im T-Shirt der Jungen Tat und mit Sturmhaube. Vater Saner versichert am Telefon, dass man Remo sehr wohl kenne, als einen sehr angenehmen Menschen und Freund der Familie sozusagen. Von JT-Masken und -T-Shirts wisse man dagegen nichts.

Ausserdem posiert ein anderer Rechtsextremist, der ebenfalls in JT-Videos zu sehen ist, hinter dem Einfamilienhaus. Auf der Brust des 22-Jährigen prangt die Tätowierung 848, Code für «Heil dir Helvetia», eine beliebte Chiffre Schweizer Neonazis. Und oberhalb des rechten Ohrs ist das Wort «Honor» zu lesen, amerikanisch für Ehre.

Der Extremist im Garten der Saners zeigt aber nicht nur rechte Symbole. Um den Hals des muskelbepackten Mannes hängt auch eine Kette mit einem grossen Kreuz. Seine Familie gehört zu einer evangelikalen Gemeinde.

Auch in der Familie Kuster, gleich nebenan, macht der eine oder andere bei einer fundamentalistisch-christlichen Gemeinde mit. Zu ihr gehört auch Vater Saner. Er durfte sogar an einem Jahreskongress sprechen, wie einem Bulletin seiner Freikirche zu entnehmen ist.

Gemessen an seinen Videoauftritten scheint Remo Kuster mit seinem kahl rasierten Schädel zum harten Kern der Jungen Tat zu gehören. Er liebt Wanderungen und Krafttrainings draussen, «Street Work-out» genannt. Wenn er nicht gerade seine Muskeln aufpumpt oder sich mit einem der Saner-Söhne im Motorboot auf dem Zürichsee vergnügt, verdient er sein Geld als Zimmermann bei einer Baufirma im Kanton St. Gallen. Kuster war zum Beispiel einer der drei JT-Aktivisten, die Ende 2020 Zeitungen vor dem TX-Group-Hauptgebäude zerrissen und sich dabei filmen liessen. Das daraus entstandene Video wurde 42’000-mal angeklickt, ein Erfolg, an den die JT seither nie mehr anknüpfen konnte.

Weiter zum harten Kern der JT gehört ein Trio aus Siebnen im Kanton Schwyz. Die drei Freunde bewegen sich auch im Dunstkreis von Blood & Honour, einem internationalen Neonazi-Netzwerk, das in Deutschland verboten ist und in der Schweiz vom Nachrichtendienst des Bundes (NDB) beobachtet wird.

Der wohl jüngste in der Kerngruppe der JT ist ein 18-jähriger Bauernsohn aus dem Kanton Luzern, der sich auch schon Volksgenosse nannte und bei einer Logistikfirma arbeitet. Er wurde früher in der Schule wegen seines Aussehens gemobbt und hat nun neue Freunde bei den Rechtsextremen gefunden. Zu seinen Mentoren gehört der 20-jährige JT-Filmer und ehemalige Chef der Eisenjugend.

Zusammen mit dem «Volksgenossen» und drei weiteren Neonazis wurde der Filmer im Februar wegen antisemitischer Rassendiskriminierung und Schüren von Hass gegen dunkelhäutige Menschen zu einer bedingten Geldstrafe verurteilt.


Die Frau mit den Hakenkreuzen

Wie viele Leute tatsächlich in der Jungen Tat mitmachen, ist unklar. Es handelt sich weniger um eine straffe Struktur als um ein loses Netzwerk, das junge Menschen an etablierte Neonazi-Organisationen wie die Nationale Aktionsfront, Blood & Honour oder die Hammerskins heranführen soll. Um die Kerngruppe herum gruppieren sich Sympathisanten, die nur gelegentlich im Bildmaterial der JT auftauchen – immer mit verpixeltem Gesicht oder Maske.

Rekrutiert wird aber nicht nur im virtuellen Raum, sondern auch in der realen Welt. Ein gelernter Koch, der bei der extremen Fussballhooligan-Gruppe «Zürichs kranke Horde» mitmacht, geht zum Beispiel in einem Zürcher Fitnesszentrum und in der Kampfsportszene auf die Suche nach neuen Mitgliedern und Trainern, die der JT bei der Verbesserung ihrer Boxkünste helfen könnten.

Zum erweiterten Sympathisantenkreis gehört die Deutsche Tina Küpfer (Name geändert), eine der wenigen Frauen, die sich mit der JT zeigte. Etwas untypisch für die rechtsextreme Szene, lädt sie auf Instagram auch mal ein Foto einer veganen Mahlzeit hoch. Dann verbreitet sie aber JT-Beiträge, etwa mit dem Motto «Leben ist Kampf». Oder ein Selfie, auf dem in ihren Tätowierungen zwei Hakenkreuze zu erkennen sind. Tina Küpfer lebt im Zürcher Oberland in einem Mehrfamilienhaus und arbeitet in einem Stadtzürcher Spital. Im Gym wurde sie von einem Bekannten eingeladen, an einem Wanderausflug der JT teilzunehmen. In der Gruppe kannte sie dann offenbar auch eine zweite Person. Seither ist sie aber nicht mehr im Propagandamaterial der Rechtsextremen aufgetaucht.


Hinterhalt der Antifa

Das hat vielleicht auch damit zu tun, dass die Ausflüge der JT nicht immer nach Plan verlaufen. Mitte Mai bekamen selbst ernannte Antifaschisten Wind von einem Besuch der Rechtsextremen im Freilichtmuseum Ballenberg. Den Neonazis und ihren Begleitpersonen wurde ein Hinterhalt gelegt. Mit von der Partie waren dabei auch bekannte Antifa-Schläger aus der Nordwestschweiz. Es kam zu einem wüsten Handgemenge, und die zahlenmässig weit überlegenen Antifaschisten verletzten den ehemaligen Chef der Eisenjugend. Er brach sich einen Finger. Eine Ambulanz wurde gerufen, und die Attacke der Antifa fand in der «Weltwoche» Eingang, unter dem Titel «Blutige Schlacht am Ballenberg».

Was der Autor des Artikels, der ehemalige SVP-Nationalrat Christoph Mörgeli, aber zu erwähnen unterliess, waren Fotos und Kommentare in den sozialen Medien, die zum Teil auch von Tina Küpfer weiterverbreitet wurden. Zu sehen war da zum Beispiel Zimmermann Reto Kuster, der mit ein paar Schrammen und Blutflecken «ausgezeichnet», nach geschlagener «Schlacht» stolz in die Kameralinse blickt. Die Kommentare der JT: «Kampf ist der Vater aller Dinge» oder «Wir bleiben stabil – ein Lächeln bei Kampf und Sturm». Man habe einigen der Linken mit den Fäusten wohl ordentliche Kopfschmerzen bereitet, schrieb die JT ausserdem in ihrem Kanal auf dem Messenger-Dienst Telegram.

Was die Antifa mit ihrer gewalttätigen Aktion vielleicht unterschätzt: Solche Angriffe können nicht weniger gewalttätige Gegenreaktionen provozieren, einen Kleinkrieg zwischen Links- und Rechtsextremisten. Weil die Rechten zahlenmässig unterlegen sind, könnten sie versucht sein, bei Racheaktionen Schusswaffen einzusetzen. Viele Neonazis besitzen ganz legal halbautomatische Waffen und trainieren regelmässig damit.

Dass sich die JT ausserhalb von Instagram oder Telegram mit längeren Texten äussert, kommt nur selten vor. Eine Ausnahme ist ein Artikel, der kürzlich im Kampfblatt der Nationalen Aktionsfront zu lesen war. «Unsere Schulen und Strassen sind voll von respektlosen, artfremden Zuzügern.» So beschreibt die Junge Tat die Situation der Jugendlichen in der Schweiz. Der Artikel strotzt allerdings von Deutschfehlern.

Besser als in ihren Texten ist die Junge Tat im virtuellen Raum mit Bildern, die Emotionen wecken sollen. Dort fordern die selbst ernannten Patrioten zum Beispiel «null Toleranz mit Islamisten», sie setzen sich für «eine nachhaltige Zukunft» mit Umweltschutz ein und animieren Jugendliche, Körper und Geist mit Kraft- und Ausdauertraining sowie mit Gebirgswanderungen zu stählen.

Hinter der JT stehen hartgesottene Neonazis, die schon lange zum Beispiel in der Nationalen Aktionsfront aktiv sind. Die Hintermänner der NAF, einer Neonazi-Dachorganisation, achten genau darauf, dass sie in der Öffentlichkeit nicht mit der JT in Verbindung gebracht werden. Denn diese hat sich mit ihren Beiträgen eine Coolness angeeignet, die auch für junge Leute ohne völkische Gesinnung anziehend wirken kann. Und solche Rekrutierungsmöglichkeiten möchte man sich nicht vergeben, indem man sich mit bekannten Neonazis zeigt und so junge Interessenten abschreckt.


Autos und Privaträume verwanzt

In ihrem Artikel stellt die Junge Tat die Zusammenarbeit mit den erfahreneren Neonazis so dar: «Wir sehen die Fusion der älteren Bewegung und jungen Kräften als die beste Möglichkeit, um eine stabile Grundlage für zukünftige Taten zu schaffen.» Diesen Gedanken nimmt der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) in seinem aktuellen Lagebericht auf: Der Austausch zwischen jungen, strafrechtlich bisher mehrheitlich nicht belangten Aktivisten und älteren Rechtsextremen steigere die Handlungsfähigkeit der neuen Gruppen. Die älteren Neonazis «verfügen über langjährige Erfahrung innerhalb dieser Gruppierungen, aber auch mit der Strafverfolgung und der Konfrontation mit Antifaschisten, wovon die jüngeren Aktivisten profitieren können». Insgesamt habe sich die Lage im Bereich Rechtsextremismus verschlechtert, und es sei mit einer Zunahme von Gewalttaten zu rechnen.

Dem Einfluss der erfahrenen Hintermänner verdankt es die Junge Tat, dass sie zumindest vordergründig die dröge nationalsozialistische Rhetorik der Winterthurer Eisenjugend hinter sich gelassen hat. Nun wird peinlich genau darauf geachtet, dass keine zu offensichtlichen Neonazi-Parolen oder -Symbole in der JT-Propaganda auftauchen. Der Trick ist, junge Menschen mit cool wirkenden Videos zuerst einmal für eine aktive und dynamische Gruppe zu begeistern. Die ideologische Gehirnwäsche kommt später, wenn die Kameras nicht laufen.

Die Behörden haben die Gefahr erkannt. Der NDB beobachtet die Gruppe genau. In ihrem Artikel schreibt die JT: «Ja selbst unsere Autos und Privaträume wurden verwanzt! Dies alles sind Zeichen unseres Erfolgs, daran, aufzugeben, denken wir nicht.»