«Judensau!» riefen die Klassenkollegen

Das Magazin, Kevin Brühlmann.

In Wiesendangen beschimpfen Jugendliche eine Schülerin antisemitisch und heben den Arm zum «Hitlergruss». Sie will sich das Leben nehmen und kommt in eine psychiatrische Klinik. Warum schweigen alle im Dorf?

An einem Morgen im Frühsommer 2018 lag Hanna* im Bett, die Nacht hatte ihre grünen Haare zerzaust. Sie hätte gern darüber gelacht, über ihren Urwald auf dem Kopf, denn sie hatte ihre Haare pink und violett färben wollen, was in einem furchtbaren Grün endete. Aber Hanna mochte nicht lachen. Sie schaffte es kaum, aufzustehen und mit dem Velo in die Schule nach Wiesendangen zu fahren.

So ging es ihr jeden Morgen, erinnert sie sich. Tagsüber wünschte sie sich, einfach zu verschwinden. Und abends vor dem Einschlafen hoffte sie, nie mehr aufzuwachen.

Hanna war damals 16 Jahre alt, 1 Meter 55 gross und 37 Kilogramm schwer.

«Ich wollte mich zu Tode hungern», sagt Hanna jetzt, da sie achtzehn und ihr Haar braun ist. «Judensau!, riefen sie. Die Klassenkollegen. Sie riefen: Einen Dreck bist du wert! In eine Grube werfen und lebendig begraben sollte man dich, wie damals beim Onkel Dölf … Und immer die Hitlergrüsse, im Klassenzimmer, auf dem Pausenhof, sogar vor dem Polizeiposten … Ich ass immer weniger. Bis ich mich irgendwann in Luft auflösen würde.»


Besuch in Wiesendangen – Hanna verändert sich – Der Befund der Schulpsychologin

Wiesendangen: ein Dorf im Nordosten Winterthurs. 469 Meter über Meer, 6500 Einwohner, «nebst einem tiefen Steuerfuss einiges zu bieten», ist auf der Webseite der Gemeinde zu lesen. Ein Kern aus Bauernhäusern, rundherum Einfamilienhäuser, dann Felder, und, auf den umliegenden Hügeln versprengt, einige Weiler.

Im September 2020 fahre ich zum ersten Mal nach Wiesendangen, zu Hannas Eltern. Sie wohnen in einem grauen Neubau mit grosser Garageneinfahrt und einem Rasen, der noch im Dezember grün und frisch aussehen wird. Vor gut drei Jahren, im Sommer 2017, ist die Familie – zwei Söhne, eine Tochter – aus einer Nachbargemeinde hierhergezogen.

Der Vater öffnet die Tür, die Mutter macht Kaffee. Wir setzen uns an den grossen Esstisch in der Stube. Auf einem Teller liegt frisches Gebäck.

Ich schaue um die Ecke, vorbei an Pflanzen, aber Hanna ist nicht zu sehen. Keine Bilder an den Wänden. Kein Halt für Erinnerungen. Nur eine weisse Leere.

Hanna sei nicht da, sagt der Vater, als habe er meinen suchenden Blick bemerkt. Letztes Jahr sei sie zu einer Tante in die USA gezogen. Es gehe ihr wesentlich besser, und sie besuche die Highschool. In Wiesendangen zu bleiben sei unmöglich gewesen, hinter jeder Hausecke lauerten böse Erinnerungen.

Der Vater breitet Dokumente auf dem Tisch aus. Zahllose ausgedruckte E-Mails, Briefe an Behörden, sogar die Kopie eines Einschreibens an Justizministerin Sommaruga, Polizeirapporte und Fotos.

Die Mutter schiebt zwei Papiere über den Tisch. Sie zeigen Ausschnitte aus dem Chat von Hannas ehemaliger Klasse. Auf dem ersten Papier (undatiert, wohl aber aus den ersten Monaten in der neuen Klasse im Herbst 2017): Hanna schrieb, sie möge das Lied «Wake Me Up When September Ends» von Green Day. Ein Schüler antwortete: «Nei bring di umm».

Auf dem zweiten Papier: Im November 2017 verschickte ein anderer Schüler einen Cartoon, auf dem vier Männer mit Bärten, bösen Gesichtern und langen Gewändern eine junge Frau vergewaltigen. Einer der Männer hält einen Koran in der Hand, ein anderer einen Benzinkanister und ein Feuerzeug. Der Vater der Frau will offensichtlich eingreifen, doch zwei Polizisten führen ihn ab. Der Cartoon trägt den Titel «Multikulti», ein Renner in rechten Internetforen, wo Männer stolz von ihren Waffen erzählen, mit denen sie das Abendland vor dem Untergang beschützen wollen.

Dann sandte der Schüler ein Bild eines Symbols, das Rechtsradikale gern auf Kleider drucken: Ein Typ verprügelt einen anderen, dazu der Satz «Good Night, Left Side», Gute Nacht, ihr Linken. Der Schüler fragte im Chat: «Händ ihr ähnlichi Sache?»

Hannas Vater schüttelt den Kopf. Ein Schatten legt sich auf sein Gesicht. «All dies erfuhren wir erst, als es schon fast zu spät war», sagt er. «Die Schule hat uns nie informiert.»

«Es fiel uns auf, dass sich Hanna veränderte. Wir fragten mehrmals bei der Schule nach, es passierte aber nichts», sagt die Mutter. «Hanna schwieg leider. Sie behielt alles für sich. Die Mobber nahm sie in Schutz.»

Die Leere der Wände fliesst über in den Blick der Eltern. Und man fragt sich, wie ihnen das Ausmass des Leids ihrer Tochter entgehen konnte. Andererseits gibt es nur wenige, die die Kunst des Verheimlichens besser beherrschen als Teenager.

Am 27. Juni 2018 brachten die Eltern die abgemagerte Hanna in die Psychiatrische Universitätsklinik in Zürich. Dort blieb Hanna zehn Tage. Später lebte sie während einigen Monaten auf einem Bauernhof im Aargau, für eine Therapie mit Tieren, und im Sommer 2019 zog sie in die USA.

Der Vater sucht den Bericht der Schulpsychologin hervor. Erst nach dem Aufenthalt in der Klinik kam Hanna zu ihr, ist darin vermerkt. Nach Gesprächen mit Hanna verfasste sie den abschliessenden Bericht. Darin schrieb sie von «Mobbingerfahrung (auch Cyber-Mobbing) über den Zeitraum von neun Monaten», von September 2017 bis Juni 2018.

Sie kam zum Schluss: «Ausschlusserfahrungen im Sinne von Mobbing über längere Zeit haben dazu geführt, dass Hanna sich nicht mehr durchsetzen konnte, die Motivation für die schulischen Leistungen tief gesunken ist und die psychische Energie und der Antrieb immer flacher wurden. Der Leidensdruck führte zu steter Niedergeschlagenheit und zu suizidalen Gedanken bis zu selbstverletzendem Verhalten und Symptomen einer Essstörung.»

Beim Abschied drückt mir der Vater einen Stapel mit Dokumenten in die Hand und sagt, er werde Hanna fragen, ob sie mit mir reden wolle.


Neonazis in der Klasse – Videoanruf bei Hanna – Der Schulleiter bemerkt nichts

Wie der Zug Wiesendangen verlässt, werden die Häuser kleiner und die Fragen grösser. Der «Blick» hatte bereits 2019 über den Vorfall berichtet («Mobbing an Schule Wiesendangen: Schülerin wollte sich töten»). Über die Gründe war jedoch nichts zu lesen.

Warum traf es ausgerechnet Hanna? Woher hatten die Teenager die Beschimpfungen und die Bilder? Kann es tatsächlich sein, denn so scheint es, dass die Schule nicht einschritt?

Nichts will zusammenpassen, alles klingt schief, wie ein Orchester, bei dem jeder für sich spielt.

Jetzt, im Zug, scheinen nur zwei Dinge klar: dass Hanna fertiggemacht wurde, bis sie sich umbringen wollte, und dass monatelang niemand etwas dagegen unternahm. 

Ich studiere ein Blatt Papier mit Kreisen und Namen darauf, die «Telefonkette» von Hannas alter Klasse. Mit Kugelschreiber hat ihr Vater zwei Namen mit einem Kreuz markiert. Severin*, der Hanna «bring di umm» geschrieben hatte, ist der erste Name. Sein Familienname kommt in dieser Gegend nicht allzu oft vor, dennoch klingt er vertraut, nur will mir nicht einfallen, weshalb.

Der zweite markierte Name gehört André*, der die Cartoons verschickt hat. Ihn kenne ich. Fotos von ihm schiessen mir in den Kopf. André als Siebzehnjähriger, auf einem Sofa sitzend, Sturmmaske auf, die rechte Hand zum Hitlergruss erhoben. André, auf einer Wiese stehend, wieder mit Sturmmaske, muskulöse Arme, Boxhandschuhe, ein weisses T-Shirt mit einer Sonne aus Hakenkreuzen.

Andrés Name war mir vor einigen Monaten begegnet. Als Mitglied der «Nationalistischen Jugend Schweiz», kurz NJS, einer rechtsextremen Gruppe, die erst vor einem Jahr, Anfang 2020, entstanden ist. Ungefähr ein Dutzend junger Männer aus der Winterthurer Umgebung probten den Aufstand, mit Kampftraining, nationalsozialistischer Propaganda und schaurigen Gruppenfotos auf Instagram.

Severin und André also. Ich präge mir die Namen ein.

Im Bundesstaat Pennsylvania, in einem verschlafenen Nest, sitzt Hanna in ihrem Zimmer, das mit den leeren Wänden und den Möbeln aus poliertem Holz etwas zu streng für eine achtzehnjährige Frau wirkt.

Ein paar Wochen sind seit dem Besuch bei Hannas Eltern vergangen. Hanna ist eben von der Schule nach Hause gekommen und hat ihren Computer eingeschaltet, um meinen Videoanruf entgegen zu nehmen.

Im Hintergrund ist ein Bellen zu hören. Die Tante, bei der Hanna wohnt, glaubt an die Kraft des Heiligen Geists, ein bisschen an den Teufel und an ihre beiden Appenzeller Sennenhunde, deren Augen so treuherzig sind, dass es kaum auszuhalten ist. Hanna freut sich, später mit den Hunden spazieren zu gehen. Alle würden ihr sagen, sie könne gut mit Hunden, sagt Hanna stolz. «Auf mich hören sie.»

Als das Bellen verstummt, tastet Hanna nach Erinnerungen an den Sommer 2017, als sie in die zweite Sekundarklasse in Wiesendangen kam.

Schon in der ersten Woche sei sie blöd angemacht worden, erzählt Hanna. Sie sei halt die Neue gewesen, sie ernährte sich vegan, dazu die grünen Haare, schon klar, habe sie gedacht, das geht vorbei, und dass einige Buben, vier oder fünf, dauernd ihren rechten Arm zum Hitlergruss hoben, habe sie für einen Spass unter Kollegen gehalten.

Dann stand der Holocaust auf dem Lehrplan. Der Lehrer bat um ein Brainstorming. Vor versammelter Klasse erzählte Hanna, die Nazis hätten ihren Urgrossvater in ein Konzentrationslager gesperrt, weil er Jude war, aber er habe zum Glück überlebt.

Und was, frage ich, ist dann passiert?

«Danach ging es richtig los», sagt Hanna. Bis heute versteht sie nicht, warum. Mit dem jüdischen Glauben hielt es ihre Familie wie mit einem Hochzeitskleid, es lag irgendwo ungebraucht, über Jahre, aber sich ganz davon zu verabschieden brachte man nicht übers Herz.

An einem Mittwochmorgen jedenfalls, vor der Mathematikstunde, sagte André zum ersten Mal, Hanna sei ein «Drecksjude». Sein Kumpel Severin machte bald mit, erinnert sie sich.
Mitschüler schlugen Hanna Bücher über den Kopf, steckten ihr Knallkörper in die Haare. Und sie ritzte ihre Arme mit Rasierklingen.

Auf der einen Seite stand Hanna – auf der anderen der Rest der Klasse, mit den Hitlerfans André und Severin als Anführer. Mitschüler schlugen ihr Bücher über den Kopf, manche klauten ihre Stifte und Hefte, andere steckten ihr Knallkörper in die Haare und zündeten sie an. Auch die Mädchen aus der Klasse mieden sie. So erzählt es Hanna.

Bald ass sie nicht mehr in der Schule zu Mittag, um vor ihren Mitschülern zu flüchten. Sie duschte öfter, zuerst zweimal, dann drei- und schliesslich fünfmal täglich, morgens, vor und nach dem Mittagessen, wenn sie abends nach Hause kam und bevor sie ins Bett ging. Sie habe die Beschimpfungen als «Drecksjude» wegwaschen wollen, erinnert sie sich. Sie ass immer weniger. Ihre Noten wurden schlechter. Sie ritzte ihre Arme mit Rasierklingen.

All dies tat Hanna heimlich. Fiel ihren Eltern dennoch etwas auf, hatte sie eine Ausrede auf Lager. Und war beim nächsten Mal noch vorsichtiger.

«Mein Hirn hat ausgesetzt», sagt Hanna. «Ich war zum Beispiel immer gut in Mathematik. Alles, was ich vor Wiesendangen gelernt habe, kenne ich auswendig. Alles danach auch. Aber das während Wiesendangen – ich weiss nichts mehr davon, da ist bloss ein weisser Fleck.»

Dann schweigt Hanna, auf ihren Wangen glitzern, über ihre Kamera tausende Kilometer weit auf meinen Bildschirm übersetzt, ein paar kleine, violette Pixel.

Nach einer Weile suche ich die Akte hervor, die ihr ehemaliger Schulleiter von ihr erstellt hat; sie umfasst drei A4-Seiten mit Stichworten über das Schuljahr 2017/2018. Darin werden diverse Vorfälle erwähnt. Fast alle zwei Wochen wurde der allgemeine Umgang in Hannas Klasse thematisiert, es muss also ein ziemlich raues Klima geherrscht haben. Über Rechtsradikale auf dem Pausenhof aber ist nichts zu finden. Es steht bloss allgemein: «Absprache weiteres Vorgehen bzgl möglichen Rassismus und möglicher Gewaltdarstellung im Klassenchat».

Darauf wurde der Jugenddienst der Kantonspolizei eingeschaltet. Passiert ist aber nichts. Laut dem Vermerk des Schulleiters meinte die Polizei: «Chatvideos und -bilder zwar moralisch bedenklich und rechtlich knapp an der Grenze, strafrechtlich nicht relevant.»

Die Hitlerfans Severin und André und ihre Judenwitze, die Beleidigungen und Übergriffe, frage ich vorsichtig, warum hast du niemandem davon erzählt?

«Ich hatte das Gefühl, ich sei an allem schuld», sagt Hanna. «Ich war verunsichert. Mir fehlte die Sprache. Bei der Schulsozialarbeiterin war es mir unwohl, es fühlte sich eiskalt an. Sie fragte immer: Was läuft falsch bei dir? Bei dir zu Hause? Bei den Eltern? Warum sind deine Noten so schlecht? Du, du, du … Mit der Zeit fing ich an zu glauben, es sei tatsächlich meine Schuld. Ich schwieg. Ich dachte, wegen mir hat die Schule schon genug Probleme, da kann ich nicht auch noch erzählen, ich denke an Suizid. Ich dachte, ich sei der Fehler.»

Noch am 26. Juni 2018 – ein Tag, bevor Hanna in die Klinik kam – vermerkte der Schulleiter in der Akte, die Situation in Hannas Klasse sei «gut».


Erinnerungslücken – Der Onkel von der SVP – Stille in Wiesendangen

An einem Abend rufe ich André an. André, den ersten Rädelsführer. «Grüezi», sagt er, im Hintergrund sind Bahnhofsdurchsagen und quietschende Züge zu hören. Er macht eine Lehre bei einem Handwerkerbetrieb, er ist wohl auf dem Weg nach Hause.

Ein anderer junger Mann, der aus der NJS ausgestiegen ist, erzählte mir, André habe am 1. August 2019 den Buurezmorge der Pnos besucht, der Partei National Orientierter Schweizer, der grössten rechtsextremen Gruppe des Landes. Funktionäre hätten um ihn geworben, selbst der Präsident. Der Pnos fehlt es an Nachwuchs. Gemäss dem Aussteiger schienen André die Männer aber ältlich und langweilig, deshalb schloss er sich der «Nationalistischen Jugend Schweiz» an.

Jetzt die Frage an André: Wie und warum traten Sie der NJS bei?

Er habe damit abgeschlossen, sagt André. «Ich distanzierte mich, weil ich mein Leben und meine Karriere nicht mit unnötigem Scheiss verbocken will.» Er sei da durch Kollegen hineingeraten. «Es ging darum, den Krassen herauszuhängen. Wie in einer Bande. Und die meisten Mitglieder sind rechtsextrem.»

«Und Sie?»

«Das bleibt mal dahingestellt. Ich war halt bei dieser Gruppe, und es gab gewisse politische Gemeinsamkeiten. Es war lustig, ich konnte Erfahrungen sammeln, aber ich würde es nicht mehr machen.»

Ich erinnere mich an das Gespräch mit dem Aussteiger. Er erzählte mir, anfangs habe er sich für eine patriotische Gruppe interessiert. «Ich wollte den Stolz auf unser Land zurückbringen», sagte er. «Man sollte mit einem T-Shirt mit Schweizerkreuz rumlaufen können, ohne gleich als Nazi beschimpft zu werden.»

Man traf sich regelmässig und trank zusammen Bier. Mit der Zeit seien weitere junge Männer dazugekommen, eindeutig Rechtsradikale, und der Aussteiger lief irgendwann selbst mit Sturmmaske und Hakenkreuz-Shirts herum, klaute Fahnen von Linken und machte Kampftraining.

Nach einiger Zeit, sagte der Aussteiger, habe er gemerkt, was wirklich abgehe, seine Eltern hätten ihm die Kappe gewaschen, «es war wie ein Albtraum, aus dem ich nach Monaten aufgewacht bin». Der Aussteiger und ich hatten nur telefoniert. Er hatte eine zittrige Stimme und redete einzig unter der Bedingung mit mir, anonym zu bleiben, aus Angst, bald stünden ein paar Maskierte vor seiner Tür und würden ihn zusammenschlagen.

Jetzt frage ich André: «Erinnern Sie sich an Hanna in der Sekundarschule?» Kurze Pause. «Wie Sie sie als ‹Judensau› beschimpften? Warum? Woher haben Sie das?»

«Ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern», sagt André.

Es ist erst zweieinhalb Jahre her, sage ich.

«Tatsächlich?», erwidert André. Dann sagt er kühl: «Ich will es nicht ausschliessen. Als Jugendlicher sagt man viele dumme Sachen. Das mit dem ‹Judensau› und so. In der Sek war das dummes Geschnurre. Wenn man auf dem Dorf aufwächst, hört man das oft.»

Der letzte Satz hallt nach, als André auflegt. Auf die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass Teenager zu Hitlerfans wurden und Hanna quälten, scheinbar ungestört über Monate hinweg, herrscht Stille in Wiesendangen; auch auf die weitere Frage, wie aus einem pubertierenden Hitlerfan ein Neonazi geworden ist, nichts als Stille. Lehrer, Behörden, Eltern – niemand will etwas mitbekommen haben. Auch bei der Polizei: nichts Verdächtiges.

Stattdessen sind Warnungen vor Hannas Eltern zu hören. Sie würden es mit der Wahrheit nicht besonders genau nehmen, heisst es. Sie seien komisch, heisst es, Unruhestifter. Warum?, frage ich. Die Leute erwidern: Fragen Sie im Dorf herum, und das Spiel beginnt wieder von Neuem.

Tatsächlich geben die Eltern ihren Kampf für Hanna nicht auf. Auch jetzt, nach zweieinhalb Jahren nicht. Sie reichten eine Aufsichtsbeschwerde bei der Zürcher Bildungsdirektion ein. Einmal auch eine Anzeige gegen die Schule. Beide Male ohne Erfolg. Wird man damit gleich zum Unruhestifter im Dorf?

Ich durchsuche das Telefonbuch nach Severin, dem zweiten Rädelsführer. Irgendwann komme ich bei Severins Familiennamen an, und da steht ein Vorname, dem ich schon einmal begegnet bin. Und zwar im Archiv des Journalisten Jürg Frischknecht.

Über 30 Jahre lang, fast bis zu seinem Tod 2016, hatte dieser in der rechtsextremen Szene in der Schweiz recherchiert. Frischknecht, die Unbestechlichkeit mit Schnauz, gefeiert und beschimpft für seine Mission, den «unheimlichen Patrioten» nachzuspüren. «Grabe, wo du stehst» war sein Motto.

Die Berge an Dokumenten liegen nun, verpackt in graue Schachteln, im Schweizerischen Sozialarchiv, das in einem alten Gebäude mitten in Zürich untergebracht ist. An einem Spätsommertag, lange bevor ich wusste, wie sich die Stille in Wiesendangen anhört, war ich die knarrenden Treppen zum Lesesaal hinaufgestiegen. Ich hoffte, in den grauen Schachteln Hinweise über eine bisher unbekannt gebliebene rechtsextreme Verschwörung zu finden. Leider wurde ich enttäuscht.

Aber in einer dünnen Mappe, einer stillgelegten Linie aus Frischknechts Nachforschungen, war ich auf eine Gruppe namens «PJW» gestossen. Die «Patriotische Jugend Winterthur»: Eine Horde von jungen, kahlgeschorenen Männern in Bomberjacken und Kampfstiefeln, Skinheads, die gern Bier tranken und Prügel austeilten, gegründet Ende der Neunzigerjahre.

Jürg Frischknecht hatte eine Mitgliederliste geführt. Ein paar Leute aus Wiesendangen sind darauf zu finden. Auch ein Mann mit Severins Familienname. Nach einigen Anrufen ist klar, dass es sich um Severins Onkel handelt. In all den Jahren ist er nie aus Wiesendangen weggezogen; er wohnt gleich neben Severin und dessen Eltern.

Würde man den Skinheads von damals Haarwuchsmittel, Turnschuhe und einen Internetzugang geben, käme wohl eine Gruppe wie die NJS heraus, die «Nationalistische Jugend Schweiz», die André – zumindest vorübergehend – in ihren Bann zog.

In seinem 1998 erschienenen Buch «Rechte Seilschaften» schrieb Jürg Frischknecht: «Die Szene ist für Junge attraktiv, das Fussvolk bewegt sich zwischen Stimmbruch und Stimmrecht. Schon Fünfzehnjährige stehen auf Hitler, auch wenn sie fast nichts über ihn wissen. Die Glatzenszene ist das wichtigste Rekrutierungsfeld für Rechtsextreme.» Und ausserdem: «Die Cliquen offerieren Kameradschaft, Geborgenheit, ‹family›. Konkret und handfest: Bier, Musik und Action.»

1998 fand vor einem Lokal namens «Ballermann» in Dietlikon eine Schlägerei statt. Einige Skinheads gingen mit Eisenstangen auf zwei Männer aus Ex-Jugoslawien und deren beide Freundinnen los. Ein Teil der Skinheads wurde von einem Dutzend Polizisten verhaftet, andere konnten fliehen, hiess es in einem Bericht des «Tages-Anzeiger» (fünf Skinheads wurden später wegen Raufhandels verurteilt). Ein Beamter erlitt einen Handbruch nach einem Schlag mit einer Eisenstange. Eine Frau musste mit einer leichten Gehirnerschütterung ins Spital. In einem vertraulichen Dokument eines ehemaligen Antifa-Aktivisten wird behauptet, der Onkel sei an der Schlägerei beteiligt gewesen.

Heute ist Severins Onkel der Präsident der SVP Wiesendangen. Als ich ihn anrufe und von der Patriotischen Jugend Winterthur erzähle, schnappt er nach Luft, es klingt, als sei er aus einem See aufgetaucht.

Dann sagt er, er habe die Leute gekannt, logisch habe er sie gekannt, aber Mitglied sei er nicht gewesen, nein; und an die Schlägerei könne er sich erinnern, ja, einige hätten damals auf den Polizeiposten gemusst, dabei gewesen sei er gewiss nicht, auf keinen Fall, und den Hitlergruss zu zeigen, das sei mit Sicherheit das Dümmste, was man in der Schweiz tun könne.

«Nicht im geringsten gibt es einen Zusammenhang zwischen damals und meinem Neffen Severin», sagt der Onkel. «Dass er in der Schule den Hitlergruss und dergleichen gemacht haben soll, höre ich heute zum ersten Mal. Ich verurteile das aufs Schärfste.»

Severin selbst, der heute siebzehn Jahre alt ist und eine Lehre macht, schreibt per E-Mail, er könne sich nicht mehr genau an jene Zeit vor zweieinhalb Jahren erinnern. Auch nicht mehr daran, weshalb er Hanna schrieb, sie solle sich umbringen. Und definitiv nicht daran, sie als «Judensau» beschimpft zu haben. Nach der Schule habe er den Kontakt zu seinem Kumpel André «ein wenig verloren».


Der freundliche Schulpfleger – Unheimliches Gespräch mit André – Wie geht es Hanna heute?

Und was wusste die Schule? Anruf bei Stefan Peter, aufgewachsen in Wiesendangen, heute Präsident der Schulpflege und Vizepräsident der lokalen SVP. «Herr Peter, was wissen Sie von rechtsradikalen Vorfällen an der Schule in Wiesendangen?» Er antwortet, geduldig und freundlich, da müsse man sich an Hubert Herger wenden, der sei für die Kommunikation zuständig.

Wenig später sagt Hubert Herger: «Wir haben keine Kenntnisse davon.»

«Hanna erzählte», sage ich, «diverse Klassenkollegen hätten dauernd den Hitlergruss gemacht und sie als ‹Saujude› beschimpft. Man habe ihr gesagt, jemand wie sie gehöre nicht nach Wiesendangen und sollte lebendig begraben werden.»

«Leider wurden wir darüber nicht in Kenntnis gesetzt, auch nicht von Hannas Eltern, als sie noch hier zur Schule ging», sagt Herger und holt aus. «Es lässt sich, offen gesagt, nicht leugnen, dass das Verhältnis zwischen der Schule und diesen Eltern sehr schwierig ist. Die Gründe sind mitunter haltlose Vorwürfe sowie rechtliche und mediale Bemühungen gegen die Schule. Das geht schon einige Jahre zurück. Was konkret an Hannas Schilderungen dran ist, lässt sich bis heute nicht feststellen. Hätte es sich tatsächlich so zugetragen, und hätten wir davon gewusst, wären wir selbstverständlich eingeschritten.»

«Und was sagen Sie zu den rassistischen, rechtsradikalen Bildern im Klassenchat?»

«Den Chat haben die Schülerinnen und Schüler auf ihren privaten Geräten erstellt. Wir haben keinen Einfluss darauf», sagt Herger. «Als wir aber von den Bildern erfuhren, meldeten wir sie der Kantonspolizei. Sie klärte die Sache ab und kam zum Schluss, dass die Bilder strafrechtlich nicht relevant seien. Es gab dann aber diverse Schulungen im Bereich der Sozialen Medien, unter anderem, um die Schüler auf mögliche Konsequenzen bei Fehlverhalten im digitalen Raum zu sensibilisieren.»

«Wie schätzen Sie den Bericht der Schulpsychologin ein, die in Hannas Fall von ‹Mobbingerfahrung, auch Cyber-Mobbing, über den Zeitraum von neun Monaten› schrieb?»

«Der Begriff ‹Mobbing› wird heute umgangssprachlich oft verwendet. Die Experten, die wir befragt haben, beurteilen die Situation nicht als Mobbing.»

«Um Ihre Worte zusammenzufassen: Sie haben also genug unternommen, um Hanna zu helfen?»

«Die Schule war alles andere als untätig. In Hannas Klasse gab es auch mehrfach Interventionen, um das Klima zu verbessern. Es gab dort tatsächlich schwierige Situationen. Selbst aus heutiger Sicht müssen wir sagen, dass wir alles unternommen haben, um ihr zu helfen. Das sehen auch sämtliche Beschwerdeinstanzen ausnahmslos gleich, sowohl auf Stufe Bezirk als auch Kanton. Dennoch», Herger räuspert sich, «macht uns das nicht glücklich, denn wir bedauern Hannas Leidensgeschichte. Leider gibt es im Leben eines Jugendlichen Bereiche, worauf die Schule keinen Einfluss hat.»

Man verabschiedet sich und legt auf. Kurz darauf rufe ich bei der Schulpsychologin an, einer erfahrenen Fachfrau. «Guten Tag», sage ich, «ich würde gern über den Fall Hanna sprechen.» Etwas nervös antwortet sie: «Tut mir leid, da müssen Sie bei der Schulpflege nachfragen. Mir ist es verboten, darüber Auskunft zu geben.»

Der Himmel treibt die Farben aus der Welt, als ich Anfang November mit dem Velo durch Wiesendangen fahre. Auf einem Hügel am Ende des Dorfes wohnt André bei seinen Eltern. Hinter dem Haus geht die asphaltierte Strasse in einen Feldweg über, der wenige Meter weiter im Nebel verschwindet. 

Um Andrés Gruppe, die «Nationalistische Jugend Schweiz», ist es in den letzten Wochen ruhig geworden. Nachdem diverse Zeitungen darüber berichtet hatten, wurde es manchen zu heiss. Sie löschten ihre Instagram-Profile und zogen sich aus der Öffentlichkeit zurück. Auch André.

Die Mutter öffnet die Tür. Ich frage sie, ob man über ihren Sohn reden könne, denn er sei einer rechtsextremen Gruppe beigetreten, und mich interessiere, wie das passieren konnte. Sie sagt, ihr Sohn sei zwar zu Hause, aber in Quarantäne, wie sie. Ein Gespräch sei nicht möglich. Ich lasse meine Telefonnummer zurück und verabschiede mich.

Beim Losfahren fängt es zu schütten an. Zum Glück taucht nach wenigen hundert Metern ein Landgasthof auf. Aufgeweicht wie ein Stück nasses Brot setze ich mich an einen Tisch. Das Telefon klingelt. André ist dran.

«Heieieiei, Velofahren, bei diesem Wetter», sagt er.

«Was meinen Sie?»

«Sind Sie immer mit dem Velo unterwegs?», fragt André. «Ist ja gescheit. Kann man Ihre Autonummer nicht aufschreiben. Keine Adresse.» Sein Telefon ist auf Lautsprecher gestellt, es hallt ein Echo nach, und jemand lacht im Hintergrund. Unmöglich zu sagen, wer mithört.

«Wie ich schon Ihrer Mutter sagte: Mich interessiert, wie Teenager in eine rechtsextreme Gruppe geraten.»

Jaja, sagt André, er habe, wie schon x Mal erklärt, damit abgeschlossen, und es gehe jetzt sowieso nur darum, ihn fertigzumachen. «Sie sind ja ein Qualitätsjournalist», er spricht das Wort aus, als sei es von dicken Anführungszeichen umgeben.

«Und die Hitlergrüsse? Das Kampftraining, die Sturmmaske? Das T-Shirt mit der Sonne aus Hakenkreuzen?»

«Ich laufe nicht mehr mit dem Zeug herum. Aber sagen Sie», Andrés Stimme wird dunkel, «Sie sind bestimmt mit dem Velo zu einem Auto gefahren. Auf und davon. Ich höre ja schon Stimmen bei Ihnen im Hintergrund … ausser, Sie sitzen in der Beiz … Moment …»

Durchs Fenster ist der Parkplatz der Beiz zu erkennen. Die Sicht verliert sich wenige Meter weiter hinten im Regen.

Keine Ahnung, ob André weiterhin bei der «Nationalistischen Jugend Schweiz» ist, ob es die NJS überhaupt noch gibt. Es spielt auch keine Rolle: Die sozialen Medien, besonders Instagram, haben die rechtsextreme Szene in ein Zerrspiegelkabinett verwandelt. Mit jeder Bewegung werden die Gesichter mal ungeheurer, mal harmloser, aber die Menschen bleiben dieselben.

«… Herr Brühlmann?», fragt André, wie ich in der Beiz sitze und nachdenke. Von seiner Stimme geht ein seltsamer Unfrieden aus.

Gemäss dem Aussteiger hatte die NJS Kontakt zu anderen rechtsextremen Kameradschaften. Zum Beispiel zur Nationalen Aktionsfront, Leuten aus der Innerschweiz, denen die Pnos zu lahm ist und die sich als Elite-Truppe sehen. Laut ihren Grundsätzen setzt sich die Aktionsfront für die «Erhaltung der eigenen Art» ein. «Abwehrverhalten gegen Artfremde» hält sie für legitim, was zur Frage der Gewalttätigkeit überleitet.

Denn die Aktionsfront ist eng mit der Organisation Combat 18 verbunden, was für «Kampftruppe Adolf Hitler» steht. Mit Waffen, Wandern und Kampftraining bereitet sich die international aktive Gruppe auf eine Art Bürgerkrieg vor. In Deutschland ist Combat 18 verboten, in der Schweiz nicht. Jedenfalls: Die Aktionsfront wollte André und seine Kollegen rekrutieren. Und zumindest ein paar liessen sich überzeugen. Ob André unter ihnen ist, bleibt unklar.

«Sie werden ja wohl nicht in der Beiz sitzen, oder?», wiederholt André gierig.

Sollte man fragen, ob er seine Brüder alarmieren will? «Schade, dass mit Ihnen nicht zu reden ist», sage ich und steige auf das Fahrrad.

Eines, das fällt auf, haben alle gemeinsam – die Lehrer, die Schulbehörde, der Schulleiter, die Polizei: Alle hatten Hinweise, dass etwas vorging. Aber niemand wollte wissen, was wirklich passierte, nicht bei Hanna und auch nicht bei Severin und André.

Vielleicht war das Undenkbare tatsächlich nicht auszumalen, Hitlerfans in Wiesendangen. Und weil es das Reden ist, das Wirklichkeit erzeugt, liess das Schweigen Hannas Erlebnisse unwirklich scheinen.

Oder wie mir ein angesehenes Behördenmitglied sagte, natürlich bloss vertraulich: «Wiesendangen hat eine gesunde Bevölkerungsstruktur, nicht direkt eine heile Welt, aber doch, gesund. Wenn hier eine Familie den Nährboden für Rechtsextremismus bietet, gerät mein Weltbild aus den Fugen.»

Aus den Fugen ist einzig Hannas Welt geraten. Aber sie erholt sich, wenn auch langsam. Jetzt sitzt Hanna wieder vor ihrem Computer in Pennsylvania und sagt, nach dem Gespräch über ihre Erlebnisse in Wiesendangen sei sie einige Tage lang traurig und durcheinander gewesen. Aber der Glaube helfe ihr. Jeden Sonntag predigt ihre Tante zu Hause im Wohnzimmer. Und sie selbst, sagt Hanna, arbeite auch an ihrer Beziehung zu Jesus Christus. Er lasse sie das Dunkle überwinden.

Hanna lächelt und erzählt, dass sie nach der Highschool ein College besuchen will, um Tierärztin zu werden. 

*Die Namen von Hanna, André und Severin wurden geändert.