Vergesst das Rütli!

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Vergesst das Rütli!

Die Wiese am Vierwaldstättersee ist der denkbar ungeeignetste Ort, um über die Ideale des schweizerischen Staates zu diskutieren.

Die hilflosen Versuche, pubertierende Patrioten und glühende Neonazis vom Rütli zu verbannen, haben der braunen Szene im Vorfeld des diesjährigen 1. August die jährliche Ration Publizität beschert. Seit 2000, sechs Jahre lang, gingen die Schlagzeilen an Antidemokraten und Rassisten, welche die unveräusserlichen Menschenrechte nicht allen zugestehen wollen. Die Chance zum Medienauftritt nutzte jene Szene, die ein paar Wochen nach dem 1. August 2005 in einem Nazi-Rockkonzert im Wallis für den Mord an Juden brüllte – und für die Liquidation der Demokratie. Und die zum andern mit einem rassistisch-nationalsozialistisch eingefärbten Parteiprogramm an Wahlen teilnehmen will.

Eigentlich müsste man sich die Augen reiben: Was trieb überdrehte Jungpat- rioten und Hitler-Fans in den letzten Jahren ausgerechnet an den Ort, wo General Guisan im Juli 1940 im legendären Rütli-Rapport den bedingungslosen Widerstand gegen die Nazi-Diktatur propagierte? Weshalb protestierte die Aktivdienstgenera-tion (und jene, die ihr in Geist und Geschichtsbild verbunden sind) nicht lauter, dass sich die hiesigen Jungnazis an einem Ort breit machten, der auch ein Symbol des Anti-Nazismus ist? Weil er das nicht mehr ist. Deutlich mehr als die «Schande vom Rütli» provozierte Leserbriefschreiber, dass jemand an einem 1. August am Rütli-Fahnenmast eine Europafahne hiss-te. Wer Schillers Theaterwiese zum nationalen Mythos hochstilisiert, soll sich nicht wundern, wenn Nationalisten dorthin pilgern. Wofür steht denn der Mythos Rütli? Das ist leider schnell aufgezählt: für Unabhängigkeit gegen irgendwelche fremden Vögte (gestern Habsburg, heute Brüssel) und für die Besonderheit der Schweiz, die fast alle überragt – an Jahrringen. Über 700 Jahre! Ein fast biblisches Alter, wohl Auserwählte.

Erinnerungen an schöne Schulreisen hin oder her – die drei Hektaren am Vierwaldstättersee haben ihren Dienst längst getan. Der Ort ist zur Pilgerstätte von rückwärts gewandten Isolationisten bis hin zu neuen «eidgenössischen Sozialisten» verkommen. Die Rütli-Kommission selbst hat die Geister gerufen, etwa, als sie den verlogenen Moralaposteln des Intoleranz predigenden Neuen Rütlibunds, der sich als «schweizerische Vereinigung für christliche Moral, Menschenwürde und Fami- lienschutz» darstellt, wiederholt Gastrecht für peinliche Propaganda bot. Man könnte den Schwur der drei Eidgenossen auch als Symbol für das Zusammenstehen in Not deuten. Oder – mit noch etwas mehr Wunschdenken – als Keimzelle von Solidarität. In einer feudalen, mittelalterlichen Gesellschaft? Mit Hintersassen und Untertanengebieten? Ebenso untauglich – weil historisch unhaltbar – war ein Versuch, den drei Verschworenen von 1291 die Losungen der Französischen Revolution unterzujubeln: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.

Das Rütli wird nie für das stehen, was die Schweiz seit 1848 ausmacht: demo- kratische Selbstbestimmung (liberté), gleiche Rechte für alle (égalité), Solidarität und Sozialstaat (fraternité). Die Schweiz, mit der man sich identifizieren und an der man sich reiben kann, wurde nicht 1291 von drei Verschworenen gegründet, sondern 1848 von einer demokratischen Mehrheit auf dem geistigen Fundament von Aufklärung, Französischer Revolu- tion und Liberalismus. Nicht ganz zufällig zieht das Rütli jene Kräfte an, die besonders Mühe haben mit der Egalité, mit Freiheitsrechten für alle, also mit den Menschenrechten. Denen momentane Mehrheitsentscheide über unveräusserliche Menschenrechte gehen. Beispielsweise Christen, welche die Religionsfreiheit «demokratisch» aushebeln wollen, wenn es um ein bescheidenes Minarett geht. Oder Neonazis, die offen die Vorherrschaft der weissen Rasse propagieren und Apartheid-Schulen. Oder jene, die es nicht stört, dass ein Fünftel der hiesigen Bevölkerung – die heutigen Hintersassen – keine politischen Rechte hat. Es ist Zeit, das Rütli zu vergessen. Diskutieren und streiten wir an andern Orten darüber, nicht zuletzt am 1. August in all den Reden im Land, was die Werte der heutigen Schweiz sind und sein könnten. «

Der Autor

Jürg Frischknecht,

59, befasst sich als freier Journalist und Buchautor seit Jahren mit der rechtsextremen Szene («Die unheimlichen Patrioten», 1979; ««Schweiz, wir kommen». Die neuen Fröntler und Rassisten», 1991).

Die These

Das Rütli wurde zum Tummelplatz von Moralaposteln und Neonazis. Der Mythos Rütli lässt sich nicht mit den Idealen der Schweiz von 1848 versöhnen. Die Wiese hat ausgedient.