Unwissenheit, versteckte Sympathien oder Ausgrenzug? – Ein Erklärungsversuch

Der Bund.

Wieso haben sich die 2000 Corona-Demonstrantinnen und -Demonstranten nicht gegen den Aufmarsch von Rechtsextremen gewehrt? Drei mögliche Thesen.

Am letzten Samstag führten organisierte Neonazis die 2000 Personen starke Demonstration an.Foto: Raphael Moser

Massnahmengegner verstehen sich als besonders wach und kritisch – und laufen dann waschechten Neonazis hinterher. So geschehen am letzten Samstag in Bern: Die Corona-Demonstration mit rund 2000 Teilnehmenden wurde von einer 40-köpfigen Gruppe Rechtsextremisten angeführt.

Wie konnte es bloss so weit kommen?

Es ist eine Frage, die sich nicht so einfach beantworten lässt. Aus Gesprächen mit Experten, Stellungnahmen von Repräsentanten der Bewegung sowie mittels Einblicken in Skeptikerforen lassen sich dennoch einige Thesen generieren – und auf ihre Plausibilität hin überprüfen.

1 Unwissenheit und fehlende Strukturen

«Bei einer Demonstration dieser Grösse waren die Leute in der vordersten Reihen für das Gros der Teilnehmenden gar nicht zu sehen», sagt etwa Simone Machado, grüne Stadträtin und Aushängeschild der massnahmenskeptischen Freien Linken. Ausserdem hätten diese ja keine bekannten rechtsradikalen Symbole auf sich getragen.

Auch Extremismusexperte Samuel Althof sagte gegenüber dieser Zeitung, dass man den Mitläufern kaum einen Vorwurf machen könne. Wer aber künftig an eine solche Demonstration gehe, müsse sich bewusst sein, dass dort auch Neonazis mitlaufen würden.

Wie Machado weiter ausführt, sei es auch – wenn denn die Neonazis als solche erkannt werden – gar nicht so einfach, aus der Situation heraus auf sie zu reagieren. Schliesslich sei die Demonstration unbewilligt gewesen, und es hätten klare Organisationsstrukturen gefehlt. «Als wir von den Freien Linken zusammen mit dem Bündnis für Urkantone eine bewilligte Demonstration organisierten, konnten wir gemeinsam die anwesenden Neonazis wegweisen.» Das sei aber kaum möglich, wenn sich niemand wirklich zuständig fühle. «Jemand macht einen Flyer, der verbreitet sich, und letztlich nimmt das Ganze eine nur schwer kontrollierbare Eigendynamik an.»

Plausibilität:

In der Tat trugen die Neonazis keine Hakenkreuze oder ähnliche offensichtliche Symbole auf sich. Auch der Soziologe Robert Schäfer, der an einer grossen Studie zur Corona-Protestbewegung mitgewirkt hat, bestätigt, dass viele Teilnehmer solcher Veranstaltungen weder über Demo-Erfahrung noch über ausgeprägtes politisches Wissen verfügen. «Viele waren vor Corona noch nie an einer Demonstration und haben sich auch nicht anderweitig politisch betätigt.»

Wie Schäfer allerdings ergänzt, ist es an vergleichbaren Demonstrationen in Deutschland und Österreich auch schon mehrmals zu solchen Aktionen von Neonazis gekommen. Auch in der Schweiz sei schon häufig auf die Anwesenheit von Neonazis und die Problematik von Holocaust-verharmlosenden Vergleichen hingewiesen worden. «Der Verdacht, dass die vermummten Gestalten an der Spitze Rechtsextreme sind, liegt da schon nahe.»

Gegen die These spricht weiter, dass auch im Nachgang der Demonstrationen kaum Distanzierungen stattgefunden haben. Einzig die Freie Linke hat auf ihrer Facebook-Seite eine kritische Stellungnahme unter eigenem Namen publiziert. Auf dem Telegram-Kanal der Corona-Rebellen Schweiz wurde das Thema von einer Einzelperson aufgegriffen. Doch die grosse Mehrheit der Kommentarschreiber sah in der Anwesenheit der Neonazis entweder kein Problem oder äusserte die reichlich bizarre Vermutung, dass die Neonazis von Linken in die Demonstration eingeschleust worden seien.

Die an der Demonstration ebenfalls anwesende «Jugendbewegung» Mass-voll schwieg das Thema auf ihren Kanälen tot. Mass-voll-Chef Nicolas Rimoldi hat zwar einem Gespräch mit dieser Zeitung erst zugestimmt, tauchte dann aber unter und war nicht mehr erreichbar.

2 Versteckte Sympathien für Rechte

Es ist ein Vorwurf, der der Bewegung von Beginn an anhaftete: dass ihre Sympathisanten bewusst oder unbewusst rechts sind oder zumindest eine grosse Offenheit gegenüber Rechtsextremen zeigen.

Plausibilität:

Angesichts der Gleichgültigkeit, mit der das Thema in den einschlägigen Foren diskutiert wird, scheint vor allem eine fehlende Abgrenzung vieler Teilnehmerinnen und Teilnehmer gegen rechts naheliegend. Für eine solche «Rechtsoffenheit» spricht weiter, dass bei vielen Beteiligten solcher Demonstrationen ein Desinteresse gegenüber konkreten Argumenten und Forderungen der Mitstreiter da ist, wie Schäfers Studie konstatierte. «Für viele ist nur relevant, ob jemand Teil der Gruppe ist – völlig egal aus welchen Gründen», sagt der Soziologe dazu.

Kann man daraus aber auf Sympathien den Rechtsradikalen gegenüber schliessen? Wie die Studie zeigt, ist die Realität etwas komplexer. So sind viele Massnahmenkritiker im grünalternativen oder im anthroposophischen Milieu zu verorten. «Gerade in den Anfangszeiten der Bewegung waren in der Schweiz nur sehr wenige Rechtsradikale an den Demonstrationen anzutreffen», sagt Schäfer.

Die Anhängerinnen und Anhänger dieser Bewegung hätten sich zudem «weder als ausgesprochen fremden- noch islamfeindlich» herausgestellt, heisst es in der Studie. Wie Schäfer ergänzt, lägen auch keine besonderen Zustimmungswerte zum Autoritarismus oder dem Nationalsozialismus vor. Selbst der in Verschwörungstheorien häufig latent vorhandene Antisemitismus war bei den Teilnehmenden nicht besonders ausgeprägt.

Gleichwohl sei bei aller Heterogenität der Befragten auch eine grosse Gemeinsamkeit auszumachen: So verbinden sie oft esoterische und verschwörungstheoretische Denkmuster. «Und diese Struktur findet man bei vielen Anthroposophen wie auch bei Neonazis, wobei die konkreten Inhalte sehr unterschiedlich sein können und die einzelnen Personen auch nichts miteinander zu tun haben müssen», so Schäfer.

3 Ausgrenzungserfahrungen

Es ist eine These, die in verschiedenen Schattierungen von Fachleuten wie auch von Politikerinnen und Sympathisanten der Protestbewegung vertreten wird: Indem man die Massnahmengegner ausgrenze, lächerlich mache und kollektiv in die rechte Ecke stelle, treibe man diese den Rechtsextremen geradezu in die Arme.

Plausibilität:

In der Tat erfahren massnahmenkritische Personen von der Mehrheitsgesellschaft eine krasse Ablehnung. Von Beginn an werden sie als «Covidioten» belächelt. Und mit der Dauer der Pandemie wurde der Umgang mit ihnen immer unerbittlicher. Wenn ein prominenter Impfskeptiker an Corona stirbt, wird auf Social Media mit Häme reagiert. Es stehen gar Forderungen im Raum, Ungeimpften bei Kapazitätsengpässen die nötige medizinische Unterstützung zu verwehren. Und selbst Ungeimpfte ohne Sendungsbewusstsein berichten von Mobbing- und Ausgrenzungserfahrungen – gerade in linken politischen Strukturen und Freundeskreisen.

Vor diesem Hintergrund ist es zumindest nachvollziehbar, dass wer selber ständig in die rechte Ecke gestellt wird, sich auch vom «Nazi»-Vorwurf anderen gegenüber weniger schnell abschrecken lässt.

Auch Soziologe Schäfer sagt, dass diese Argumentation über eine gewisse Plausibilität verfüge – allerdings lägen dazu keine empirischen Daten vor. Gleichzeitig betont er, dass die Bewegung auch selber von Beginn weg die Rolle der Ausgegrenzten suchte, wie die Studie zeigte. «So können sie sich als heroische Widerstandskämpfer inszenieren, die quasi allein gegen das gesamte Establishment opponieren.»

Bewegung am Scheideweg

Keine einzelne These kann das Geschehene also abschliessend erklären. Klar aber ist: Es macht einen deutlichen Unterschied, ob in einer Grossdemo ein paar vereinzelte Rechte mitlaufen oder ob die Demonstration von einer organisierten Gruppe Neonazis angeführt wird. Sollte es sich bei der Demonstration von letztem Samstag tatsächlich um ein Versehen gehandelt haben: Bei einem zweiten Mal können keine Ausreden mehr geltend gemacht werden.