Nun hat der «Tages-Anzeiger» ein grösseres Problem

Infosperber.

Kommentar. Der Autor des misslungenen Porträts einer Zürcher Stadtratskandidatin wurde entlassen. Ein fragwürdiger Entscheid der Chefetage.

Ende Januar löste ein Artikel über die Stadtratskandidatin Sonja Rueff-Frenkel heftige Proteste aus, weil der im «Tages-Anzeiger» erschienene Text antisemitische Klischees bediente. Nach anfänglichem Zögern hat sich die Chefredaktion von der Publikation distanziert. Das Porträt habe nicht den Qualitätsstandards der Redaktion entsprochen, und die interne Kontrolle habe versagt, hiess es. Nun ist der Autor des Artikels, Kevin Brühlmann, gemäss Medienberichten entlassen worden. Die Chefredaktion des «Tages-Anzeigers» liess verlauten, es habe in Bezug auf den Autor «wiederholt unterschiedliche Auffassungen über Qualität im Journalismus» gegeben. Die Entlassung erregte in der Belegschaft der Tageszeitung Widerspruch. Ein «grosser Teil» der Redaktion protestierte gegenüber der Chefredaktion, wie «CH-Media» aus einer Stellungnahme zitiert.

Das jüdische Magazin «Tachles» wiederum berichtet, dass bekannte jüdische Persönlichkeiten wie Madelaine Dreyfus, Ron Halbright und Jacques Picard einen Brief an den Verleger Pietro Supino geschickt hätten. Wie sie darin schreiben, erachteten sie die Entlassung Brühlmanns als «kontraproduktiv und sogar unangemessen». Und: «Wenn die Konsequenz aus einem solchen Vorfall nun darin bestehen würde, einen einzelnen jungen Journalisten aus der Redaktion zu entlassen, würde dies unseres Erachtens zeigen, dass die Dimension des Problems falsch verstanden wurde. Denn dass vor der Veröffentlichung niemandem auf der Redaktion die Problematik des Artikels aufgefallen ist, beleuchtet, wie tief verwurzelt antisemitische Klischees in unserer Gesellschaft sind.»

Tatsächlich zeigte die zuerst zögerliche Reaktion des «Tages-Anzeigers» auf die Kritik am Artikel, dass das Sensorium der Chefetage für die Problematik nicht ausgeprägt war. Erst der starke Protest veranlasste die Zeitung zu einem klaren Mea culpa. Die Chefredaktion sagt nun, sie habe bereits vor diesem Artikel Zweifel an der Arbeit des Journalisten gehabt. Die Entlassung sprach sie indessen genau nach diesem misslungenen Porträt von Rueff-Frenkel aus.

Wenn Brühlmann die Redaktion mit seinem Artikel hinters Licht geführt hätte, wäre die Entscheidung verständlich gewesen. Doch der Autor hat einen Fehler gemacht, der für alle Verantwortlichen, welche für die interne Kontrolle zuständig waren, hätte sichtbar sein müssen. Wenn dies nicht erkannt wurde, dann tragen dafür in erster Linie die Vorgesetzten die Verantwortung. Entsprechend billig wirkt es, wenn nun der Autor auf die Strasse gestellt und im Regen stehengelassen wird. Die Chefetage hoffte wohl, damit einen Schlussstrich unter die Affäre ziehen zu können. Sie hat das Gegenteil bewirkt. Laut «CH-Media» wurde das Porträt von fünf Personen, unter diesen ein Mitglied der Chefredaktion, vor der Publikation gelesen. Eigentlich müsste der «Tages-Anzeiger» nun der Öffentlichkeit genauer erklären, was da schiefgelaufen ist.

PS: Der kritisierte Artikel ist in leicht modifizierter Version online noch aufrufbar.