Nach dem Trychle lockte er Buben ins Hotelzimmer

Tagesanzeiger. Ein Schweizer Freiheitstrychler sollte die Bewegung in Österreich aufbauen. Dort missbrauchte er Minderjährige und stellte Pornos her. Laut den Trychlern hat das nichts mit ihrer Gruppierung zu tun

Ein Hilferuf geistert am 27. März 2022 durch die sozialen Medien. Gesucht wird der «liebe Freund und Freiheitstrychler» Jan Keller (Name geändert). Absender des Posts ist ein österreichischer Massnahmenkritiker. Keller ist Schweizer und offenbar nirgendwo auffindbar, nicht mehr erreichbar. Bekannte im In- und Ausland suchen nach ihm, schreiben, sie machten sich «riesengrosse Sorgen». 

Der Suchaufruf wird in Telegram-Chats, auf Facebook oder in Blogeinträgen von massnahmenkritischen Kreisen geteilt. Fotos im Aufruf zeigen einen jungen Mann Anfang 20 im weissen Trychlerhemd sowie einen Wohnwagen mit Schweizer Kennzeichen.

Keller ist ein sehr aktives Mitglied der Freiheitstrychler. Jener Protestbewegung, die während der Pandemie an bewilligten wie verbotenen Demonstrationen landauf, landab zuvorderst mitmarschiert. Die mit ihrem stoischen Selbstverständnis und lautem Glockengeläut bei Behörden und Medien viel Aufmerksamkeit erregt.

Einen Tag nachdem die Suchaktion nach Keller gestartet wurde, folgt die Gewissheit: Der Zentralschweizer, der kurz zuvor seine Lehre abgebrochen hatte, wurde in Österreich verhaftet. Er sei hoffentlich bald wieder frei, schreiben seine Freunde. Als diese Redaktion erstmals mit ihnen spricht, ist von «Behördenwillkür» und «Schikane» die Rede. Doch die Freunde täuschen sich.

Paranoide Schizophrenie mit ausgeprägter Wahnbildung

Zehn Monate später, im Januar 2023, steht Kellers Mutter weinend vor ihrem Sohn. Sie befinden sich, wie die Autorin dieser Redaktion, vor einem Gerichtssaal in Krems an der Donau in Österreich. Ihr Blick ist kalt und traurig, sie wirkt zugleich wütend und beschämt. Denn gleich wird ihr Sohn zu schweren Straftaten befragt. Von seinen Trychlerfreunden: keine Spur.

Keller hat Buben sexuell missbraucht. Ihnen gedroht. Kinderpornos hergestellt. Das Gericht befindet ihn jedoch für unzurechnungsfähig. Denn Keller leidet gemäss Gutachten an einer paranoiden Schizophrenie mit ausgeprägter Wahnbildung.

Über Monate hat diese Redaktion zum Fall recherchiert, mit Kellers Angehörigen, Wegbegleitern und Behörden gesprochen und anhand von Aufnahmen zahlreicher Demonstrationen den Weg vom ruhigen, engagierten Mitläufer ins totale Abseits rekonstruiert.

Denn Keller war nicht irgendein Trychler. Er wurde von Andy Benz, dem bekanntesten Schweizer Freiheitstrychler, als Mann für Österreich zelebriert – und hat am Ende alle getäuscht.

Reizgas hat den Widerstand befeuert

Die Geschichte von Kellers Faszination für die Trychler beginnt im Frühling 2021. An einem Samstag im April zieht eine Gruppe mit lautem Glockengeläut in Altdorf Richtung Dorfkern. Eine angekündigte Grossdemo wurde verboten, trotzdem marschieren Hunderte Massnahmenkritiker durch den Urner Hauptort. 

Keller ist damals noch kein Mitglied der Bewegung. Wie Videos und Livestreams der Demonstration zeigen, zottelt er allein im Kapuzenpulli den Trychlern hinterher – zaghaft, aber sichtlich aufgeregt. Wie Helden werden die Trychler beim Telldenkmal mit «Liberté»-Rufen empfangen und gefeiert.

Immer wieder filmt Keller mit seinem Handy begeistert das Geschehen – und steht mittendrin, als sich eine Truppe Polizisten in Vollmontur den Trychlern in den Weg stellt. Es kommt zu einem Gerangel, bis die Beamten ihre Reizstoffdosen zücken und lossprühen. Keller bekommt eine volle Ladung ins Gesicht ab. 

Es ist jenes Erlebnis, das bei Keller eine Art Schalter umlegt, wie viele Weggefährten erzählen werden.

Drei Tage später lanciert er ein Crowdfunding, damit er mit einem Anwalt gegen die von ihm kritisierte «Reizgasattacke» der Polizei vorgehen kann. Er sammelt fast 8000 Franken. Gemäss Urner Staatsanwaltschaft geht eine solche Anzeige aber nie ein.

Schnell im Visier der Behörden

Zwei Wochen später demonstriert Keller erstmals als Freiheitstrychler in Rapperswil SG. Es folgen Kundgebungen in der ganzen Schweiz. Was auffällt: Aus dem Mitläufer wird schnell ein Aushängeschild. Keller läuft nach kurzer Zeit schon ganz vorne mit, etwa neben Freiheitstrychler-Oberhaupt und Behördenschreck Andy Benz. Oder neben «Mass-voll»-Gründer Nicolas A. Rimoldi an den Montagsspaziergängen in der Stadt Luzern. 

Und das bringt den Trychler-Neuling keine zwei Wochen nach seiner ersten Demo ins Visier der Behörden. Als er Anfang Mai in Luzern an einem unbewilligten «Abendspaziergang» vor 250 Massnahmenkritikern den Weg frei läutet, wird er erstmals von der Polizei abgepasst und angezeigt. Er habe den Demonstrationszug angeführt und Anweisungen gegeben, steht später in seinem Strafbefehl. Im Juli wird er aus demselben Grund gleich nochmals angezeigt.

Unter den Trychlern kommt allmählich Unmut auf. «Er hielt sich nicht an die Spielregeln», sagt ein ehemaliger Freiheitstrychler, der anonym bleiben möchte. Eine weitere Quelle bestätigt, dass mehrere Trychler den Ausschluss von Keller gefordert hätten. Die Skepsis ihm gegenüber zeigt sich auch darin, dass zahlreiche Weggefährten – darunter der sonst sehr gesprächige Nicolas A. Rimoldi – nicht über Keller reden wollen oder abrupt das Telefongespräch beenden. Und das, Monate bevor Keller schwere Straftaten begeht.

Support erhält er damals offenbar von Trychler-Patron Andy Benz. Im Herbst 2021 schwappt die Trychler-Bewegung allmählich nach Österreich über – und Keller wird trotz der Kritik an ihm zum Österreich-Vertreter. Er läuft an zahlreichen Demos in Österreich ganz vorne mit und schart Anhänger um sich. Anfang Dezember steht Benz anlässlich einer Grossdemo in Wien gemeinsam mit Keller auf einer Bühne und schreit ins Mikrofon: «Friede, Freiheit, Souveränität!»

Deutlich wird das Verhältnis in einem Videobeitrag einer österreichischen Corona-Massnahmenkritiker-Plattform, der im Februar 2022 online geht. Arm in Arm stehen Benz und Keller mit anderen Schweizer Freiheitstrychlern vor der Kamera. Sie erzählen vom «jahrhundertealten Brauch», von angeblicher Polizeigewalt oder dass die Trychler so erfolgreich seien, dass sie nun bis nach Wien auf die Strasse gingen. 

Stolz führt Benz aus: «Wien ist natürlich schon eine Distanz. Aber da haben wir die Freiheitstrychler Österreich, die Jan zu meiner Linken aufbaut.» Der Moderator fragt diesen nach seinem Wohnort. «In der Schweiz», sagt Keller verlegen. Er sei in Österreich bei Freunden untergebracht. Der Moderator erwidert: «Wir sagen jetzt lieber nicht, wo du wohnst.» – «Lieber nicht.»

Drei Wochen später ruft eine besorgte Mutter auf der Polizeistation in Krems an der Donau an. Sie berichtet, ihr 12-jähriger Sohn verbringe auffällig viel Zeit mit einem Schweizer Staatsangehörigen. Die Freundschaft erscheine ihr nicht geheuer. 

Die Polizei nimmt Keller daraufhin fest – und lässt ihn nicht mehr gehen. Denn wie die darauffolgenden Ermittlungen zeigen, befürchten die Behörden nicht nur, dass Keller flüchten könnte. Sondern auch, dass er seine Taten wiederholt.

Das jüngste Opfer war zehn

Die Lektüre der Anklageschrift ist nur schwer zu ertragen. Zwischen November und Dezember 2021 hat Keller den 12-Jährigen mindestens dreimal in einem Hotelzimmer schwer sexuell missbraucht und gemäss Anklageschrift «in besonderer Weise erniedrigt». Er drohte dem Kind, Videos und Fotos davon zu veröffentlichen, sollte er sich weigern, in die sexuellen Handlungen einzuwilligen.

Daneben hat Keller drei weitere Buben in Österreich sexuell missbraucht. Er brachte sie über die sozialen Medien und Whatsapp-Chats dazu, geschlechtliche Handlungen an sich selber vorzunehmen und ihm Foto- und Videomaterial davon zu schicken. Das jüngste Opfer war knapp zehn Jahre alt.

Mit weiteren Buben stand Keller in Kontakt und versuchte, sie mittels Geschenken wie Bargeld oder Games von einem Treffen zu überzeugen. In Kontakt mit den Minderjährigen kam Keller, indem er sie vor einer Schule ansprach. Er behauptete etwa, er habe einen 8-jährigen Sohn und wolle Freunde für ihn finden. «Er hat ihr Vertrauen gewonnen», so die ermittelnde Staatsanwältin an der Verhandlung Mitte Januar dieses Jahres. 

Keller hat offenbar mehrheitlich in einem geliehenen Wohnwagen gelebt. Die Staatsanwältin spricht von Hunderten pornografischen Inhalten mit 8- bis 12-Jährigen, die man auf Kellers Laptop und Handys gefunden habe. Er habe auch heimlich auf Schultoiletten Buben beim Pinkeln gefilmt.

Auf Anfrage hin antwortet Andy Benz für die Freiheitstrychler zunächst. Dann meldet sich sein Anwalt, autorisiert die Zitate von Benz aber nicht, sondern will den Bericht verbieten. Er hält fest, dass es sich um eine privat begangene Tat handelt, die «mit den Freiheitstrychlern nichts zu tun hat». Er kritisiert, es sei offensichtlich, dass mit dieser Geschichte Benz und die Trychler unberechtigt in Misskredit gebracht werden sollen.

Schon bald beginnt Keller eine Therapie bei Andreas Frei, einem erfahrenen forensischen Psychiater in Luzern und Liestal. Der Fall des Zentralschweizers sei aussergewöhnlich. Nicht nur, weil er auffallend jung sei, die Kombination mit einer paranoiden Schizophrenie sei auch selten. «Einem Pädophilen mit paranoider Schizophrenie bin ich noch nie begegnet», sagt Frei. 

Einen Zusammenhang mit den Freiheitstrychlern, die teilweise mit ihrer Nähe zu Verschwörungstheorien auffielen, schliesst der renommierte Psychiater nicht aus: «Es ist anzunehmen, dass Verschwörungs­theoretiker ein latentes Wahnsystem bekräftigen und ausbauen können.» Pädophile seien aber schon in unterschiedlichen Gruppierungen vorgekommen, relativiert der Experte.

Keller wurde bereits vor seiner Zeit als Trychler in der Schweiz wegen seiner Schizophrenie behandelt. Ein Gutachter in Österreich attestierte ihm nun eine paranoide Schizophrenie mit ausgeprägter Wahnbildung. Deswegen muss er nicht ins Gefängnis.

Therapie in der Schweiz

Das Gericht in Krems an der Donau hat vergangene Woche eine bedingte Einweisung in eine «Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher» angeordnet. So nennt Österreich Sonderanstalten des Massnahmenvollzugs. Da die Einweisung bedingt ist, wird Keller nicht in eine solche Anstalt geschickt, sondern kann auf eigenen Wunsch in der Schweiz therapiert werden – von Psychiater Frei. 

Dieser kann ihn für eine Weile in eine Psychiatrie einweisen oder ihn von zu Hause aus oder in einer betreuten Wohngruppe behandeln. «Frei» sei Keller deshalb nicht, sagt der Psychiater. Das Gericht verlangt während einer 10-jährigen Probezeit den Nachweis einer regelmässigen Depotmedikation und einer Psychotherapie, hat die Vermeidung des Kontakts mit Kindern und Jugendlichen verordnet und Keller ein Beschäftigungsverbot in der Kinder- und Jugendarbeit erteilt. 

Depotantipsychotika werden häufig zur Behandlung von Schizophrenie eingesetzt. Sie wirken gegen Wahrnehmungs- und Angststörungen. Im günstigsten Falle kann es zu einer weitgehenden Rehabilitation führen. Pädophilie hingegen ist eigentlich nicht heilbar. In einer Psychotherapie sollen die Täter erkennen, was sie ihren Opfern antun, sowie Strategien entwickeln, damit sie nicht wieder straffällig werden. (aa)

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, Keller hat jedoch einen Rechtsmittel­verzicht abgegeben. Damit akzeptiert er das Urteil. Auf mehrere Kontaktversuche der Redaktion reagierte er nicht. Auch seine Eltern möchten sich nicht äussern.

Monatelang schrie Keller mit seinen Trychlern auf den Strassen nach «Freiheit» – nun werde er nicht mehr wirklich frei sein, sagt Andreas Frei: «Er wird sich wohl für lange Zeit, wenn nicht sein Leben lang, medikamentös behandeln lassen und in Therapie begeben müssen.»