«Die Heidi-Schweiz ist tot»

work vom 04.12.2009

Historiker Hans-Ulrich Jost* zum Minarettverbot: Schon früher hat die extreme Rechte erfolgreich mit Fremdenhass mobilisiert. Doch früher konnte sie nicht einfach durchmarschieren.

Die extreme und nationalistische Rechte hat wieder zugeschlagen

Die angewandte Strategie ist nicht neu und wird seit über hundert Jahren mit Hilfe von Referendum und Initiative immer wieder in Szene gesetzt. 1893 kam beispielsweise ein Schächtverbot (rituelles Schlachten von Tieren) in einer Volksabstimmung durch. Dies mit 65 Prozent Ja-Stimmen. Es handelte sich um eine antisemitische Attacke, die sich mit dem Deckmäntelchen Tierschutz drapierte.

Eine weitere grosse Initiative, die den Fremdenhass mobilisierte, kam 1970 vors Volk. Es war die sogenannte Überfremdungsinitiative von James Schwarzenbach. Der Chef der Republikanischen Partei wollte alle ausländischen Arbeiterinnen und Arbeiter aus dem Land werfen. Assistiert wurde Schwarzenbach von einem Jüngling namens Ulrich Schlüer, dem Erfinder der Anti-Minarett-Initiative. Jene Initiative wurde mit äusserst knappen 54 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt.

Der Erfolg der Anti-Minarett-Kampagne kann allerdings nicht allein auf die Demagogie der Rechten zurückgeführt werden. Und auch nicht nur auf Vorurteile und Ängste in der Bevölkerung. Intoleranz und Ausgrenzung hatten sich leider schon in der Bundesverfassung von 1848 festgesetzt. Zum Beispiel mit dem Verbot der Jesuiten. Oder damit, dass man den seit Jahrhunderten in der Schweiz ansässigen Juden die politischen Rechte verweigerte.

Weniger Staat

Doch seit einigen Jahrzehnten ist in der Schweiz zusätzlich moralischer Minimalkonsens abhanden gekommen. Mit ihrem Slogan «Weniger Staat, mehr Freiheit» haben die Freisinnigen 1979 die Zeit des hemmungslosen Eigennutzes eingeläutet. Sie liessen fortan jenen Bundesstaat immer mehr fallen, den sie einst gegründet und gehegt hatten. Und mit ihm die einstigen bürgerlich-demokratischen Werte.

Finanzkapitalismus statt Demokratie: Für den Kampf gegen die Anti-Minarett-Initiative hat der Wirtschaftsverband Economiesuisse keinen Franken lockergemacht. Der Bulldozer des Neoliberalismus sorgt sich lieber um den Erhalt überrissener Bankerboni und Profite. Der CVP kommt ihrerseits nichts Gescheiteres in den Sinn, als auch noch auf den Anti-Islam-Kurs der SVP aufzuspringen. Mit der Forderung nach einem Burkaverbot. Kaum erfreulicher sieht es bei der Linken und ihrer Gefolgschaft aus. Letztere ist verunsichert durch die Globalisierung und die prekäre Lage auf dem krisengeschüttelten Arbeitsmarkt. Und die linken Politikerinnen und Politiker glauben offenbar, sie könnten die Gespenster der Intoleranz vertreiben, indem sie die Ängste des Volkes verständnisvoll streichelten.

Die Skandal-Schweiz

Seit den 1990er Jahren hat die Schweiz einen beträchtlichen Teil ihres symbolischen Kapitals verloren. Seit damals löst ein Skandal den anderen ab. Erst der Streit um die herrenlosen Vermögen, die von den Banken verheimlicht wurden. Dann das Grounding der Swissair, des Schweizer Flaggschiffes, das im Ausland Vertrauen schuf. Schliesslich die gesetzeswidrige Jagd der UBS nach Geld und überrissenen Gewinnen. Ohne Milliardenpaket des Bundes wäre die Bank heute ein Schutthaufen. Das hindert ihre Chefs jedoch nicht, ihre Geschäftspraxis mit alter Arroganz weiterzuführen. Und jetzt noch das Minarettverbot! Die Heidi-Schweiz, die Pestalozzi-Schweiz und die Schweiz des Roten Kreuzes sind definitiv tot.

Noch schlimmer: Die rechtsextreme und nationalistische Rechte bläst mit Erfolg zum Sturm gegen die parlamentarische Demokratie, den Sozialstaat, die Menschenrechte. Hier lauert die Gefahr, nicht bei den Minaretten.

*Hans-Ulrich Jost ist emeritierter Geschichtsprofessor der Uni Lausanne und lebt in Lausanne.