«Was soll diese Ausgrenzung?»

St. Galler Tagblatt vom 30.12.2009

Der 24jährige St. Galler Bankangestellte und Wirtschaftsstudent Hasan Alur wehrt sich als vollständig integrierter Moslem und «Normalbürger» gegen eingeredete Klischees und vermeintliche Unvereinbarkeiten von Herkunft und Glauben.

Marcel Elsener

Typisch sei er, «vielleicht, hoffentlich», aber «niemand Besonderer», sagt Hasan Alur. Er wolle sich nicht in den Vordergrund drängen, aber sich doch «stellvertretend für den Grossteil der moslemischen und nichtmoslemischen Ausländer» zu Wort melden. Sprich als betont durchschnittlicher «Normalbürger», als in der Schweiz geborener und eingebürgerter, rundum integrierter Moslem. Selbstverständlich ist letzteres der Punkt – und der bezeichnende kleine Unterschied: Hasan Alurs Religion, «gemässigt» gelebt, im Alltag unsichtbar. «Wie bei 95 oder noch mehr Prozent der Schweizer Bevölkerung, ob Christen oder Moslems.»

«Moslems mag man nicht»

Abgesehen vom Namen weist wenig darauf hin, dass der 24-Jährige ausländischer Herkunft ist; schon gar nicht sein akzentfreier St. Galler Dialekt und der Beruf als Bankangestellter. Darauf, dass er Moslem ist, hätte ihn in den letzten Jahren nie jemand angesprochen, sagt er. Hat ja auch keinen gekümmert, geschweige denn gestört. Jetzt aber fühlt er sich bemüssigt, Farbe zu bekennen.

Den Ausschlag gegeben hat die Stimmungsmache im Zuge der Minarettabstimmung, und insbesondere ein Satz in einer «Club»-Diskussionsrunde am Schweizer Fernsehen: «Moslems mag man einfach nicht.» Wenn «gebildete Leute» wie der stellvertretende Chefredaktor der «Weltwoche», Markus Somm, solche Aussagen machten, dann komme er sich ausgegrenzt vor – «sogar ich, der ich hier geboren bin und mich immer wohl gefühlt habe», erklärt Hasan Alur: «Das finde ich beängstigend.» Er hat das auch der SF-Redaktion und Somm geschrieben – freundlich, aber bestimmt.

Im Militär und bei der Bank

«Was soll diese Ausgrenzung?», fragt sich der Schweiztürke und bedauert das Signal der «Trennung statt Vereinigung». Das führe nur zur Stärkung der Extremisten – Rechtsextreme einerseits, Radikalislamisten andererseits – und letztlich zur Beängstigung aller Volksgruppen. «Als Schweizer mit wenig oder ohne Kontakt zu Ausländern, etwa in ländlichen Gebieten, hätte ich angesichts dieser wohl auch ein diffuses Gefühl.»

Hasan Alur büffelt in diesen Tagen Prüfungsstoff für sein berufsbegleitendes Wirtschaftsstudium; bereits hinter sich typisch schweizerische Arbeits- und Lebenserfahrungen bei der UBS in Zürich und im Militär (Durchdiener). Wir sind bei Kaffee und Mineralwasser in seiner Wohnung mit Blick auf die Altstadt und ihre Kirchtürme schnell beim Thema. «Aber nein, Minarette müssten hier nicht sein», lacht er. Auch wenn wir im Stadtbild modische Annäherungen ausmachen, vermutlich Türme aus der Zeit des Jugendstils. Zufälligerweise ist er in Degersheim gleich neben der Kirche aufgewachsen, «und die war lauter als hier der Stadtverkehr». Wieder ein Schmunzeln.

Fondue und Moschee

Im Abstimmungskampf sei der Eindruck entstanden, dass hiesige Moslems «ein Minarett wollen, sobald sie selber denken können». Eine grundfalsche Annahme, glaubt Alur: «Wahrscheinlich haben nicht einmal fünf Prozent je an ein Minarett gedacht, ich kenne niemanden in meinem Umfeld.» In der aufgeheizten Stimmung jedoch gingen «simple Wahrheiten verloren». Genauso wie die Tatsache, dass praktizierende Moslems die fünf Säulen des Islam (Glaubensbekenntnis, fünf Tagesgebete, Almosensteuer, Fasten, Pilgerfahrt) im Rahmen der schweizerischen Gesetze problemlos nachgehen können.

Als einer, der «Fondue und Raclette essen geht wie jeder andere Schweizer», nehme er die verschiedentlich geforderte Pflicht zur Integrationshilfe für neu zugezogene Ausländer gerne wahr, meint Alur. «Doch manchmal habe ich die Erklärungen satt. Ein Appenzeller muss sich ja auch nicht für einen Genfer rechtfertigen!» Wenn er – «vor allem an Festtagen, leider zu selten» – in der Moschee im St. Galler Lachenquartier (oder in Uzwil) dem Imam zuhöre, tue es ihm oft weh, welche falschen Vorstellungen kursierten. Die Predigten und Gebete glichen weitgehend dem, was in Kirchen oder Synagogen vermittelt werde – Liebe in der Familie, Verständnis für den Mitmenschen, Ehrlichkeit und Dankbarkeit; «da haben doch alle Religionen ihre ähnlichen Gebote».

Er sei von seinen Eltern «nie mit Zwang» erzogen worden und habe darum «keinerlei negative Einstellung gegenüber anderen Religionen». Was auch für jene gelte, die ihrer Religion ernster nachlebten: «Warum soll strenggläubig ein Schimpfwort sein? Wer mit Gott lebt, wie die Nonnen, geht doch den sogenannten wahren Weg und verhält sich eher gesetzestreuer.»

Aus Izmir nach Degersheim

Hasan Alurs Eltern, ebenfalls «moderate Moslems», kamen Mitte der 1960er-Jahre aus der Küstenstadt Izmir in die Schweiz; der Vater war von einem Vermittlungsbüro angeheuert worden und arbeitete zunächst als Möbelschreiner in Ganterschwil, später in Herisau. Willkommen geheissen wurde der Türke – damals in der Schweiz noch eine Ausnahme – vom Chef («er führte ihn herum und zeigte ihm den Säntis») und namentlich von italienischen Kollegen. Dabei sei der Glaube seiner Eltern nie ein Thema gewesen, erzählt Hasan Alur, «jedenfalls nicht bis zu den Anschlägen von 9/11». Von da an aber wurden Ausländer mit islamischem Hintergrund immer mehr über ihre Religion definiert statt über ihre Herkunft. So «mutierten» freundliche Nachbarn aus der Türkei zu Moslems und das Kopftuch, das seine Mutter bei Moscheebesuchen oder bei Wind und Regen trägt («wie ältere Schweizerinnen auch») zum verdächtigen Kleidungsstück.

Als Schweizer und Türke, der «nebenbei» Moslem sei, wehre er sich gegen falsche Zuspitzungen – wie die Vermengung von Religion und Gewalt. Wenn die SVP behaupte, «das Volk fühle so», stimme das. Doch bei Problemen wie Jugendgewalt oder Zwangsheirat seien auch Ausländer mit christlichem Hintergrund betroffen. Alur geht es nicht um Schuldzuweisung, sondern um die Erkenntnis, dass die Probleme kulturelle oder soziale Hintergründe hätten.

Gelebte Integration im Dorf

Seine Erfahrung im Aufwachsen mit Schweizern, Portugiesen, Albanern erzählt eine andere Geschichte – «von problemloser Integration, das ist wohl der riesige Vorteil einer Dorfgemeinschaft, weil Schweizer und Ausländer zusammen aufwachsen!». An der Seite von Degersheimer Kollegen wunderte er sich während der Oberstufenzeit, wie Bekannte in St. Gallen auf die schiefe Bahn kamen und wie viel ihnen dabei durchgelassen wurde. «In unseren Ländern würde das nie toleriert.»

Zum Schluss zweifelt er, ob er übersensibel sei und bevorteilt, mit ebenfalls eingebürgerten älterem Bruder und einer Schwester, die Asylbewerbern monatelang freiwillig Deutschkurse gab. Es gehe doch einfach darum, die Tücken des Alltags zu meistern, ob Moslem oder Christ, und für eine friedliche Gesellschaft einzustehen.

Markus Somm hat ihm zurückgeschrieben. Natürlich sei seine Aussage «unfair», meinte der «Weltwoche»-Redaktor, «aber so ist die Realität». Welche Realität? Eine Realität vielleicht, die für Moslems in der Schweiz genauso fremd ist wie für Schweizer?

Vor den Kirchtürmen St. Gallens: Hasan Alur, Schweizer Moslem mit türkischen Eltern, auf dem Balkon seiner Wohnung.