«Konzertparadies für Rechtsextreme»

Bote der Urschweiz: Rechtsextremismus Das Neonazi-Konzert in Toggenburg ist nicht die erste Veranstaltung dieser Art hierzulande. Die Schweiz ist in der Szene beliebt für solche Treffen – laut Experten ist es hier einfach, eine entsprechende Bewilligung zu erhalten.

Zuerst war ungläubiges Staunen. Dann eiliges Bemühen um Ruhe und Ordnung. Und schliesslich hörbares Aufatmen. Alles noch einmal gut gegangen. Vordergründig wenigstens. Die Rechtsextremen haben sich so schnell aus dem Toggenburg verabschiedet, wie sie gekommen sind. Sie kamen, sie führten das als «Rocktoberfest» getarnte Neonazi-Konzert durch, und sie gingen wieder (Ausgabe von gestern).

Grund genug, zur Tagesordnung überzugehen? Wohl kaum. Am Samstag ging in Unterwasser ein Anlass über die Bühne, mit dessen Ausmassen im Toggenburg niemand gerechnet hatte. Drei Jahre übrigens nachdem im nahen Ebnat-Kappel schon einmal ein Neonazi-Konzert Anlass für Aufruhr gewesen war. Szenekenner und Journalist Fabian Eberhard spricht mit Blick auf Unterwasser gar von einer «neuen Dimension». Und für die Antifaschistische Bewegung (Antifa) ist der Anlass «einer der grössten Neonazi-Events, die in der Schweiz je stattgefunden haben».

Polizei war vor Ort

Für die Antifa steht ohnehin fest: «Die Schweiz gilt in der rechtsextremen Szene seit Jahren als Konzertparadies.» Eine Feststellung, die auch in einem Blog auf «Zeit online» Karriere macht, weil die Polizei zwar vor Ort war, aber nicht eingriff. Begründung: Es handle sich um einen Privatanlass. Einen, dessen Spuren via Zürcher Oberland nach Deutschland in die Neonazi-Szene führen. Rückblick: Der letzte Anlass mit ähnlicher (medialer) Breitenwirkung, das Neonazi-Konzert im Crazy Palace in Gamsen VS, hatte 2005 Schlagzeilen produziert. Die Organisatoren wurden vier Jahre später wegen Rassendiskriminierung vom Bezirksgericht Brig verurteilt. Zum Vergleich: Im Wallis nahmen 400 Personen am Konzert teil, also mehr als zehnmal weniger als am Samstag im Toggenburg.

Was ist vom Grossaufmarsch in Unterwasser zu halten? Der Basler Ex­tremismusexperte Samuel Althof, Gründer der Aktion Kinder des Holocaust, sieht den Fall differenziert. «Die Mobilisierung, die am Wochenende stattgefunden hat, ist das eine, die Repräsentanz der Szene das andere», sagt er. Mit anderen Worten: Der Grossaufmarsch sage nicht unbedingt etwas über den politischen Organisationsgrad aus. Vielmehr spiele die Bewilligungssituation in der Schweiz eine Rolle – sie wirke anziehend statt abschreckend.

«Erhebliches Gewaltpotenzial»

Gleichwohl sieht Althof «kein strukturelles Problem». Vorsichtig ist Samuel Althof auch, wenn es um voreilige Ableitungen aus dem Ereignis geht. «Die Szene ist auf mittlerem Niveau und bei hoher Fluktuation stabil.» Er spricht von 800 bis 1000 Neonazis und einem «harten Kern» von weniger als 100. Der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) schweigt auf Anfrage unserer Zeitung: «Kein Kommentar», sagt Kommunikationschefin Isabelle Graber.

Im Bericht «Sicherheit Schweiz 2015» spricht der NDB von rückläufigen Zahlen «im Bereich des Rechtsextremismus», ortet aber «ein erhebliches Gewaltpotenzial». Wobei in jüngerer Vergangenheit bei linksextremistischen Aktionen eine Häufung zu verzeichnen war. Hans Stutz, Beobachter der rechtsextremen Szene, teilt die Rechtsextremismus-Einschätzung des NDB – zumindest was die Naziskinheads in der Deutschschweiz betrifft. Unklar sei hingegen, ob Rechtsextreme mit einem politischen Anspruch vermehrt Zulauf haben.

Hans Stutz: «Am kommenden Samstag will die Partei National Orientierter Schweizer (Pnos) die Gründung von fünf neuen Ostschweizer Sektionen feiern, verbunden mit dem Auftritt einer deutschen Rechtsextremisten-Band.» Und in der Westschweiz? «Dort sind vorwiegend rechtsextreme Polit-Gruppen aktiv – mit Vorträgen, Aktionen und Demonstrationen», führt Stutz aus. Trotz dieser Hinweise sagt Samuel Althof: «Es gibt keinen Bedarf für extremistische Politik in der Schweiz.» Um im gleichen Atemzug anzufügen: «Die Wahrnehmung korrespondiert nicht immer mit der tatsächlichen Bedeutung.»

Althof sieht darin insofern etwas Positives, als die Sensibilisierung von Veranstaltern ebenso wie von Behörden nach einem Ereignis wie in Unterwasser steige. Fragt sich, wie lange der Effekt anhält: «Die Schweiz ist zwar kein Paradies für Veranstalter von Nazi-Konzerten, aber besonders schwierig ist es doch nicht, einen solchen Anlass zu organisieren», meint Althof.

Gemeindepräsident: «Etwas naiv gehandelt»

St. Gallen Angekündigt gewesen war ein familiärer Konzertabend in der Tennishalle von Unterwasser – mit Schweizer Nachwuchsbands und 600 bis 800 Besuchern. Gekommen sind am Samstag gegen 6000 Neonazis für ein Rechtsrock-Konzert. Gemeindepräsident Rolf Züllig beteuerte gestern, vom Inhalt der Veranstaltung nichts gewusst zu haben. Die Gemeinde sei überrumpelt worden.

Anders die Kantonspolizei St. Gallen. Wie Recherchen unserer Zeitung zeigen, hatte die Polizei im Vorfeld Informationen vom Nachrichtendienst des Bundes (NDB) erhalten. «Der NDB und die Kantonspolizei St. Gallen wussten, dass ein Rechtsrock-Konzert im süddeutschen Raum geplant war», sagt Gian Andrea Rezzoli, Mediensprecher der Kantonspolizei. «Süddeutschland» stand auch auf dem Flyer, der für das Konzert geworben hatte. Aus Erfahrung habe man auch gewusst, dass der effektive Austragungsort bei solch rechtsradikalen Veranstaltungen oft von dem angegebenen abweiche, sagt Rezzoli. «Wir haben aber bei unseren Ermittlungen nicht herausgefunden, ob das Konzert in der Schweiz stattfindet oder nicht.» Erst am Samstagnachmittag gegen 15 Uhr habe die Polizei durch die zahlreich anreisenden Konzertbesucher nach Unterwasser vom eigentlichen Veranstaltungsort erfahren.

Überschreiten der Grenze ist nicht illegal

Nach wie vor offen ist, wie busweise Neonazi-Anhänger die Staatsgrenze überqueren konnten, ohne dass bei den Sicherheitskräften die Alarmglocken geläutet haben. David Marquis, Mediensprecher der Eidgenössischen Zollverwaltung, sagt: «Illegal wird das Überschreiten der Grenze erst, wenn jemand bereits zur Fahndung ausgeschrieben ist» – oder verbotene Gegenstände mit sich führt. «Nur auf die Vermutung hin, dass jemand an einem Konzert einen Hitlergruss machen könnte, können wir niemanden an der Grenze verhaften.»

Der Neonazi-Auflauf in Unterwasser soll der grösste derartige Anlass gewesen sein, der je in der Schweiz stattgefunden hat. Gemeindepräsident Rolf Züllig sagt: «Im Nachhinein kann man wohl sagen, dass wir etwas naiv gehandelt haben.» Derzeit prüft die Gemeinde rechtliche Schritte gegen den Veranstalter. «Schliesslich haben wir die Bewilligung nur aufgrund falscher Angaben erteilt.»

Von «Privatanlass» kann keine Rede sein

Justiz Dass Rechtsextreme schnell einmal mit der sogenannten Rassismus-Strafnorm in Konflikt kommen können, liegt in der Natur der Sache. Denn diese Strafnorm schützt die Würde des Menschen, und zwar unabhängig von Rasse, Ethnie und Religion. Ihr Wortlaut: «Wer öffentlich gegen eine Person oder eine Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie oder Religion zu Hass oder Diskriminierung aufruft, wer öffentlich Ideologien verbreitet, die auf die systematische Herabsetzung oder Verleumdung der Angehörigen einer Rasse, Ethnie oder Religion gerichtet sind, wer mit dem gleichen Ziel Propagandaaktionen organisiert, fördert oder daran teilnimmt, wer öffentlich durch Wort, Schrift, Bild, Gebärden, Tätlichkeiten oder in anderer Weise eine Person oder eine Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie oder Religion in einer gegen die Menschenwürde verstossenden Weise herabsetzt oder diskriminiert oder aus einem dieser Gründe Völkermord oder andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit leugnet, gröblich verharmlost oder zu rechtfertigen sucht, wer eine von ihm angebotene Leistung, die für die Allgemeinheit bestimmt ist, einer Person oder einer Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie oder Religion verweigert, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.»

Dabei handelt es sich um ein Offizialdelikt, also eine Straftat, die die Strafverfolgungsbehörde von Amts wegen verfolgen muss, wenn sie ihr zur Kenntnis gelangt.

Das Wort «öffentlich» ist dabei von Bedeutung: Nicht gegen die Rassismus-Strafnorm verstösst nämlich, wer rassendiskriminierende Äusserungen oder Handlungen im privaten Bereich vornimmt. Was aber gilt rechtlich als privat? Als privat sind Äusserungen anzusehen, die in einem Umfeld erfolgen, «das sich durch persönliche Beziehungen oder durch besonderes Vertrauen auszeichnet» – also etwa der Familien- und Freundeskreis. Der Rechtsrock-Anlass in Unterwasser nun wird da und dort als «Privatanlass» bezeichnet, und in dieser Bezeichnung schwingt mit, allfällige rassistische Äusserungen und Handlungen der in der Halle Anwesenden fielen nicht unter die Rassismus-Strafnorm. Dies trifft jedoch nicht zu, wie das Bundesgericht in einem Urteil aus dem Jahr 2004 klar festhält.

Die Argumentation des höchsten Gerichts: Wenn an einer solchen Veranstaltung Personen anwesend seien, zu denen keine persönliche Bindung und kein Vertrauensverhältnis bestehe, dann seien rassistische Äusserungen im Sinne der Rassismus-Strafnorm strafbar. Das gelte auch für Treffen von Rechtsextremen, denn lediglich die gemeinsame rechtsextreme Gesinnung schaffe noch kein Vertrauensverhältnis. Das Urteil sagt zudem, dass es auch nicht ausreicht, ein Treffen von Rechtsextremen als privaten Anlass zu verstehen, nur weil die Gäste persönlich eingeladen wurden und die Organisatoren Eingangskontrollen durchführten.

Wie steht es nun mit dem Event in Unterwasser, der nach Urteil des Bundesgerichts also nicht als privat gelten kann? Gab es Äusserungen oder Handlungen, die als Verstoss gegen die Rassismus-Strafnorm gelten müssten? Laut Gian-Andrea Rezzoli, Sprecher der Kantonspolizei St. Gallen, hat die Polizei vor Ort angeblich nichts feststellen können, das in diesem Sinn rechtlich von Relevanz gewesen wäre.