Kommentar zu bedrohter Lesung: SVP zündelt mit Reichsbürgern gegen «Genderismus» – das ist gefährlich

Tages-Anzeiger. Das Narrativ der Partei und von extremistischen Gruppierungen gleicht sich immer mehr an. Die Folge davon ist ein Klima der zunehmenden Intoleranz.

David Sarasin

Bereits zum zweiten Mal innert Wochenfrist steht eine Veranstaltung, die sich mit Geschlechterrollen auseinandersetzt, unter heftigem Beschuss von rechts. Diesmal trifft es die «Drag Time Story» in der Pestalozzi-Bibliothek in Oerlikon, eine Lesestunde für Kinder. Bereits vor einer Woche musste ein Gender-Tag in einer Schule in Stäfa wegen Drohungen abgesagt werden.

Wieder baut ein Online-Mob aus Rechtsextremen, Verschwörungstheoretikern und Querdenkern den Druck auf – befeuert von Exponenten aus der SVP. Eine ähnliche Verschränkung von Politik und radikalen Gruppierungen gab es schon vergangenen Herbst, als Neonazis die «Drag Story Time» in Zürich störten. Wenige Tage darauf unterstützte die SVP das Anliegen der Faschisten im Gemeinderat. Zurzeit ist es Nationalrat Andreas Glarner, der die aufgeladene Stimmung auf Twitter immer weiter befeuert.

Es sind dieselben Kreise, die nun diese Veranstaltung verhindern wollen, die sich ansonsten über «Cancel Culture» beschweren. Sorgen macht aber etwas anderes: Das Narrativ von Verschwörungsideologien, Neonazis und der SVP läuft derzeit im Takt. Es scheint, als hätten sie mit dem Bekämpfen des «Genderismus» eine gemeinsame Stossrichtung gefunden.

Nicht nur in der Schweiz läuft es so. Auch in Österreich und Deutschland mussten jüngst Drag-Queen-Lesungen für Kinder nach Hetzkampagnen unter Polizeischutz gestellt werden. Dasselbe gilt in verstärktem Mass für die USA, wo es sich längst in Anti-Trans-Gesetzen niederschlug.

Die verschärfte hiesige Atmosphäre der Intoleranz geht einher mit einer Zunahme der Gewalt. 2022 wurden in der Schweiz so viele Angriffe und Diskriminierungen gegenüber LGBTQ-Menschen gemeldet wie noch nie – 134 waren es insgesamt. Da spielt es keine Rolle, dass der Online-Mob für die Pestalozzi-Lesung zur friedlichen «Mahnwache» aufruft. Der Ton wurde längst gesetzt.

Der Vorwurf von rechts lautet: Umerziehung von Kindern. Brainwashing. Indoktrinierung. Das ist Unsinn. Die «Drag Story Time» kann als Einblick in eine neue Welt gelesen werden. Ob man deren Werte mittragen möchte, können Kinder selber entscheiden. Ausserdem gibt es zahlreiche andere Veranstaltungen für Kinder, auch an der Pestalozzi-Bibliothek, die ein traditionelles Familienbild vermitteln.

Das Schlimmste, was aber derzeit in den Augen der rechten Ideologen passieren kann, ist offenbar die Infragestellung von Geschlechterrollen. Egal, ob es sie persönlich betrifft oder nicht. Ausserdem lässt sich das Thema gut politisch ausschlachten. Der Effekt davon ist ein stetiges Klima der Intoleranz. Man kann diese Entwicklung derzeit live miterleben.