«Jemand hat beim Vorbeifahren den Hitlergruss gezeigt»

Berner Zeitung.

Jüdinnen und Juden aus der Schweiz erzählen, wie sie Antisemitismus hierzulande erleben und wie sich das anfühlt. Die Erfahrungen gehen weit auseinander.

Von Jugendlichen aus seiner Gemeinde weiss Michael Fichmann, dass jene, die religiöse Symbole öffentlich zeigen, eher Beleidigungen ausgesetzt sind. Einige würden ihre Kippa deshalb unter einer Baseballmütze tragen. Bild: Keystone

Gerade ist der neuste Antisemitismusbericht für die Deutschschweiz erschienen, herausgegeben vom Schweizerisch Israelitischen Gemeinschaftsbund (SIG) und von der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA). Der Bericht zeigt: Antisemitismus scheint gerade im Netz salonfähig zu werden. Doch auch «offline» werden weiterhin Beleidigungen geäussert, Verschwörungstheorien verbreitet oder Schoahbanalisierung und – leugnung betrieben.

Was bedeutet das für Jüdinnen und Juden im Alltag, wie reagieren sie auf Onlinehetze, wie erfahren sie Antisemitismus auf der Strasse, was löst das bei ihnen aus?

Barry W., 32, tätig im Handel mit Baustoffen

«Ich werde beschimpft, angeschrien, beleidigt – auf der Strasse, durch die offenen Fenster vorbeifahrender Autos. Doch jene, die mir all das zurufen, hatten bisher noch nie den Mut, mir gegenüberzutreten und mit mir ins Gespräch zu kommen. Meistens sind es Jugendliche. Im Geschäftsleben höre ich keinen offenen, verbalen Antisemitismus. Aber ich spüre ihn unterschwellig. Da sind diese Untertöne, Witze über Banken oder dass wir Juden reich seien. Wenn mich jemand beschimpft, schockiert mich das im ersten Moment. Dann aber spüre ich eher Ehre, dass ich erkannt worden bin als Jude. Ich lasse mich nicht unter Druck setzen. Wer mich als Juden beschimpft, hat die falsche Beleidigung ausgewählt. Denn: Ich bin Jude, und ich fühle mich wohl und stolz, so, wie ich bin. Trotzdem: Gerade auf den Strassen einer Schweizer Grossstadt sollte niemand solchem Hass begegnen.»

Beni Frenkel, 41, Kolumnist beim «Tages-Anzeiger»

«In der Primarschule wurde ich beleidigt, als Jude. Andere wurden ‹Tschinggen› und ‹Jugos› geschimpft. Ich habe mich wegen der Beleidigungen auch geprügelt. Aber nur selten. Danach, im Militär, im Erwachsenenleben, hatte ich nie mehr Probleme. Von antisemitischen Inhalten fühle ich mich nicht angegriffen. Meine Kinder gehen an eine öffentliche Schule, unsere Nachbarn sind Muslime – es gab nie Probleme. Ich möchte antisemitische Vorfälle nicht verharmlosen oder verteidigen. Aber wenn es nur ein blöder Spruch ist, sollte man den nicht überbewerten. Auch Frauen oder andere Minderheiten hören ab und zu einen blöden Spruch.»

Karen Roth-Krauthammer, 50, Präsidentin von Omanut, Verein zur Förderung jüdischer Kunst in der Schweiz

«Seit 10 Jahren bin ich Präsidentin von Omanut, dem Verein zur Förderung jüdischer Kunst in der Schweiz. Während dieser Zeit habe ich noch nie Beschimpfungen erfahren, obwohl ‹jüdisch› als Adjektiv in unserem Vereinstitel steht und unsere E-Mail-Adresse öffentlich ist. Unsere Veranstaltungen wurden nicht gestört und sind sehr beliebt. In meiner Arbeit erfahre ich viel Neugierde gegenüber der jüdischen Kultur, ich stosse auf viele offene Türen. Das ist sehr erfreulich. Exotisieren möchte ich unsere Kultur und mich als Jüdin aber nicht. Ich fühle mich ganz normal.

Ich finde es traurig, dass es rassistische Personen gibt, die gibt es schon lange und wird es auch in Zukunft geben. Wenn ich ab und zu online etwas Antisemitisches sehe, erschrecke ich. Meistens schaue ich mir diese Dinge nicht an. Ich verdränge sie. Das Internet ist wohl ein Ventil unserer Zeit für den Hass dieser Personen. In anderen Zeiten gab es andere Ventile. Gefährlich wird es, wenn der Hass im Netz in die Realität umschlägt. Vielleicht ist das auch eine Generationenfrage. Meine Generation ist noch stark geprägt vom Holocaust und vom Zweiten Weltkrieg, ich reagiere sehr sensibel auf dieses Thema. Allgemein ist meine Befindlichkeit aber positiv.»

Michael Fichmann, 30, Vorstand Israelitische Cultusgemeinde Zürich, ICT-Berater

«Bereits als ich in den Kindergarten im jüdischen Gemeindezentrum ging, gab es eine Sicherheitsschleuse. Das ist traurig, war aber leider schon damals nötig, denn Antisemitismus ist kein neues Phänomen. Vorsicht ist besser als Nachsicht. 2019 gehe ich leider immer noch durch Sicherheitsschleusen in unseren jüdischen Einrichtungen. Bei meiner Arbeit im Technologiebereich und in meinem nicht jüdischen Umfeld spüre ich aber keinen Antisemitismus. Eher Unwissen. Bei vielen Begegnungen oder in Fragen kommen Vorurteile gegenüber Juden auf. Einerseits finde ich es schade, dass noch so viele unreflektierte Vorstellungen herumgeistern. Andererseits freue ich mich, wenn ich solche Themen im direkten Gespräch diskutieren und erklären kann. Tätliche Angriffe habe ich persönlich nie erlebt. Beschimpfungen schon, auch, dass jemand vor mir auf die Strasse gespuckt hat oder beim Vorbeifahren einen Hitlergruss gezeigt hat.

Früher gingen bei unserer Gemeinde ab und zu antisemitische Briefe ein, heute wird das eher elektronisch gemacht. Im Sommer 2014, während des Gazakriegs zwischen Israel und der Hamas, wurde auf Schweizer Facebook-Seiten massiv gegen Juden in Zürich gehetzt und mit Gewalt gedroht, obwohl wir nichts mit dem Nahostkonflikt zu tun haben.

Für viele Schweizer Juden ist die Furcht vor Terrorismus momentan grösser als jene vor Antisemitismus. Ein Attentat wie jenes auf zwei Moscheen in Christchurch ist schrecklich. Wir haben uns sofort mit den Muslimen in Neuseeland solidarisiert. Genau solche Gewaltakte sind es, die auch wir Juden fürchten. Trotzdem: Ich fühle mich wohl hier in der Schweiz, sicherer als jüdische Freunde in anderen europäischen Ländern. Ich bin hier geboren und aufgewachsen, hier habe ich meine Wurzeln und bin stolz, Schweizer zu sein.»

Anonym, arbeitet im Gesundheitswesen

«Als ich noch zur Schule ging, stand ich zwar dazu, dass ich Jüdin bin, habe es aber nie an die grosse Glocke gehängt. Meine Kinder sind viel offener. Als sie kleiner waren, sagten sie der Verkäuferin an der Migros-Kasse, die ihnen fröhliche Weihnachten wünschte, sie würden doch Chanukka feiern, und alle mussten lachen. Das fand ich wunderbar. Ich stamme aus einer grossen jüdischen Familie. Meinem Grossvater gelang im Zweiten Weltkrieg die Flucht aus einem polnischen Ghetto. Ein Teil unserer Verwandten lebt in Frankreich. Sie berichten Schlimmes von antisemitischen Vorfällen. Hier in der Schweiz sind die Leute noch zufriedener, sie brauchen keinen Prellbock. Aber was, wenn sich das in Zukunft ändert? Bereits heute gibt es auch hierzulande Anfeindungen und Übergriffe. Meine Schwester hat das während ihrer Schulzeit erleben müssen. Ich zum Glück nicht. Meiner Tochter hat ein Bub in der Schule ‹Saujüdin› nachgerufen. In einer Whatsapp-Gruppe meiner anderen Tochter wurde eine Kettennachricht mit Hakenkreuzen und Mordaufrufen an Juden herumgeschickt. Das macht mich betroffen und macht Angst. Das Thema Antisemitismus ist immer latent da, flammt immer wieder auf. Man steckt es weg, lebt damit.»