Der «Chäppu»: Ein explosives Gemisch

Der Bund.

ITTIGEN / Sonderkommission prüft Massnahmen zur Bekämpfung von Gewalttätigkeiten in der Grosssiedlung – Kauft die Gemeinde das Restaurant?

Sind es Skinheads, Rechtsradikale, Schweizer, Ausländer, «abgelöschte» Jugendliche oder organisierte Banden, die gegenwärtig das Kappelisacker-Quartier unsicher machen – oder am Ende ein Gemisch von alledem? Eine Sonderkommission soll die Lage prüfen und dem Ittiger Gemeinderat Gegenmassnahmen vorschlagen.

Autor: ERICH KOBEL

Dass im «Chäppu» soziale Spannungen bestehen, ist nicht neu. In diesem rund 25jährigen Quartier mit zirka 700 Wohnungen leben Schweizerund Ausländer, Drogenabhängige und Geschäftsleute, Beamte und Sozialhilfebezüger, Mieter und Eigentümer nahe aufeinander. Mehrmals schonhaben sich dadurch Konflikte ergeben: Von Gewalttätigkeiten in Familien und unter Jugendlichen war mitunter die Rede, und mehrmals klagtenSchweizer, das Quartier werde zunehmend von Randgruppen dominiert, mit denen ein friedliches Zusammenleben fast nicht mehr möglich sei.

Nun scheint sich die Situation gar noch verschärft zu haben. Vor einigen Wochen nämlich wurde der Gemeinderat vom Jugendgericht Bern-Mittelland in Kenntnis gesetzt, dass im Rahmen eines Verfahrens verschiedentlich geltend gemacht worden sei, in Ittigen bestehe zwischen schweizerischen und ausländischen Jugendlichen ein überdurchschnittlich hohes Spannungsverhältnis, das durch eine anhaltende Bedrohungssituation und einzelne Handgreiflichkeiten geprägt sei. Schweizer bezichtigten Ausländer des ständigen Anpöbelns und derGewalttätigkeit, und umgekehrt sei von Provokationen, Diskriminierungen und Bedrohungen die Rede, welche von «sich Neonazi-mässiggebenden Einzelpersonen und Gruppen» ausgingen.

Extremistische Propaganda
Wie die «Berner Zeitung» am vergangenen Donnerstag berichtete, herrsche im Kappelisacker – und zeitweilig auch beim Bahnhof Worblaufen -tatsächlich ein Klima der Gewalt. Es sei wiederholt zu Zusammenstössen zwischen Gruppierungen und zu Attacken gegen Einzelpersonen gekommen. Im Rahmen ihrer Ermittlungen, welche über den Kanton hinausreichten, habe die Polizei Waffen und rechtsextremistischesPropagandamaterial konfisziert.

Auf «Waffen» anderer Art machte zudem die Lehrerschaft den Ittiger Gemeinderat aufmerksam, nämlich auf Luftdruckpistolen («Soft Air»), die in der Schule aufgetaucht seien.

Vor diesem Hintergrund hat die Behörde vorgestern eine erste Lagebeurteilung vorgenommen und beschlossen, eine spezielle Kommission mit derAusarbeitung von Vorschlägen zur Eindämmung der Gewalttätigkeiten zu beauftragen. Diesem Gremium sollen Mitglieder des Gemeinderats undV ertreter der Schule sowie die Jugendarbeiter angehören, aber auch Erziehungsberatung, Polizei und Jugendgerichtsbarkeit.

Prävention steht im Vordergrund
Gemeindepräsident Walter Frey warnt freilich vor übertriebenen Erwartungen: Das Problem sei vielschichtig, und die Exekutive verfüge überkeinerlei Polizeigewalt. Die Anstrengungen müssten daher wohl hauptsächlich der Prävention gelten. Frey wandte sich überdies dagegen, die bedenklichen Erscheinungen vorschnell und allzu einfach einer bestimmten Gruppierung zuzuschreiben. Er habe eher den Eindruck, da griffen voneinander unabhängige Strömungen ineinander.

Parallel zu den Abklärungen der Sonderkommission wird geprüft, ob sehr rasch auf dem Robinsonspielplatz im Kappelisacker, etwas abseits der Wohnungen, in Fertigbauweise ein Jugendlokal errichtet werden kann. Es sei nämlich augenfällig, dass im Quartier zuwenig Gemeinschaftseinrichtungen zur Verfügung stünden, wo sich die jungen Leute treffen könnten, sagt Frey.

Eine Art Gemeinschaftseinrichtung ist natürlich das der Gurten-Brauerei gehörende Restaurant Kappelisacker. Dieses wird nun just übermorgenvon einem Pächter ausländischer Herkunft übernommen, was in Ittigen sofort neue Ängste ausgelöst hat («Jetzt wird unsere Quartierbeiz zum Jugo-Treff!»). Solchen Befürchtungen tritt «Gurten»-Liegenschaftsverwalter Fritz Guggisberg entschieden entgegen: Beim Pächter handle es sich um einen ausgezeichnet assimilierten Mazedonier, welcher seit 15 Jahren in Ittigen wohne und keinesfalls die Absicht habe, den Betrieb zu einem Ausländertreffpunkt umzuwandeln. «Bei unerwünschten Entwicklungen irgendwelcher Art würden wir ganz grundsätzlich sofort einschreiten», betont Guggisberg. An die Adresse der Bevölkerung fügt er an, es sei ein Gebot der Fairness, dem neuen Pächter vorurteilsfrei gegenüberzutreten. Dieser besitze einen bis Ende November 1996 befristeten Vertrag, werde aber das Restaurant eventuell erwerben, sofern er dieFinanzierung sicherzustellen vermöge.

Kauft Gemeinde den «Chäppu»?
«Gurten»-Direktor Rudolf Bärtschi sagt, er tendiere grundsätzlich auf einen Verkauf, weil das Lokal nicht mehr ins Konzept des Unternehmens passe. Genau gleich sei übrigens die Ausgangslage hinsichtlich des Restaurants Rüti in Ostermundigen und der «Traube» in Thun. Zur Veräusserung dieser Wirtschaften sei es vorab darum noch nicht gekommen, weil die Banken von Kaufinteressenten ein hohes Eigenkapital (nämlich 40 Prozent) verlangten.

In Ittigen gibt es allerdings sehr wohl jemanden, der die Finanzierung sicherstellen könnte, und das weiss man auch bei der Gurten-Brauerei – die Gemeinde. Dass diese den «Kappelisacker» kaufen würde, so räumen denn Rudolf Bärtschi und Fritz Guggisberg auch unumwunden ein, wäre eine sehr willkommene Lösung. Gemeindepräsident Walter Frey konnte gestern materiell nicht zu dieser Option Stellung nehmen. Er bestätigte aber, dass das Angebot vom Gemeinderat geprüft werde.

So ist nun eine fraglos überraschende Variante ins Spiel gekommen. Gewiss wären zwar mit dem Erwerb des Restaurants die im Quartier herrschenden Probleme nicht gelöst. Vielleicht erhielte die Gemeinde aber auf diesem Weg doch gewisse sozialpolitische und gemeinschaftsfördernde Möglichkeiten in die Hand, um einen Teil der Schwierigkeiten abzufedern. Nur: Ob sich die Gemeindeversammlung vonder Richtigkeit eines solchen Schritts überzeugen liesse, steht in den Sternen. Auf der anderen Seite sind zum Beispiel auch die Nachbargemeinden Bolligen und Ostermundigen Eigentümerinnen von Restaurants; ungewöhnlich wär’s also nicht.

Eine düstere Prognose
Zu beachten bleibt freilich, dass es sich hier um einen Nebenschauplatz handelt – im Brennpunkt steht das Problem, dass sich (vorab) imKappelisacker ein explosives Konfliktpotential zusammengebraut hat. Man fühlt sich angesichts der jüngsten Entwicklung an die Prognose erinnert, die am 31. August 1994 von einem «Chäppu»-Bewohner an einer öffentlichen Veranstaltung zum selben Thema gemacht worden war: «Gewisse Leute regen sich über Gewaltberichte im Fernsehen auf – aber im Kappelisacker ist das längst nicht mehr Fiktion, sondern tägliche Realität. In wenigen Jahren wird hier ein enormer Fremdenhass entstanden sein.»