Hunderte Wissenschaftler vor den Nazis gerettet, aber nie geehrt

srf.ch: Flüchtlingsretter Paul Grüninger: bekannt. Judenretter Oskar Schindler: bekannt. Gelehrtenretter Philipp Schwartz: völlig unbekannt. Dabei hat der Neuropathologe ab 1933 Hunderte Wissenschaftler in alle Welt vermittelt und von Zürich aus vor den Nazis gerettet.

In der Nacht zum 24. März 1933 kommt der knapp 40-jährige Philipp Schwartz in Zürich bei seinen Schwiegereltern an. Es ist der Tag, an dem das deutsche Parlament mit dem Ermächtigungsgesetz Adolf Hitler und den Nationalsozialisten den Rücken stärkt. Philipp Schwartz ist Jude, und damit laut Nazi-Gesetzen «nicht arischer Abstammung». Der Professor für Pathologie an der Universität von Frankfurt am Main soll aus dem Dienst entfernt werden. Von Kollegen gewarnt, entzieht sich Schwartz durch die Flucht von Frankfurt nach Zürich seiner bevorstehenden Verhaftung.

Von Zürich aus für die Freiheit der Wissenschaft

In einem stattlichen Haus an der Zürcher Plattenstrasse 52 führt sein Schwiegervater Sinai Tschulok eine Privatschule. Hier gründet Philipp Schwartz wenige Tage nach seiner Ankunft die «Zentralberatungsstelle für deutsche Gelehrte», später «Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland» genannt. Schwartz will die Freiheit der Wissenschaft retten – und damit das Leben vieler Menschen.

Er und seine Organisation vermitteln Hunderte von Forschern in die ganze Welt. Auch in die Türkei; dort reformiert Präsident Mustafa Kemal Atatürk gerade die Universitäten.

Ein weltweites Netzwerk

Philipp Schwartz emigriert selber im Herbst 1933 nach Istanbul und erhält an der Universität einen Lehrstuhl für Pathologie. Von dort aus setzt er sich weiter für die Rettung von Wissenschaftlern ein. Schwartz eignet sich die Sprache an, nach zwei Jahren hält er seine Vorlesungen auf Türkisch.

In Zürich übernimmt der deutsche Jurist Fritz Demuth – selber ein Flüchtling – die Koordination der Selbsthilfeorganisation. Die Beratungsstelle übersiedelt Anfang 1936 nach London und fusioniert dort mit einer britischen Schwesterorganisation. Gemeinsam mit einer Zweigstelle in New York vermittelt sie von 1933 bis 1945 zirka 2600 deutsche Wissenschaftler auf neue Stellen.

Gedenktafel für Antisemiten

Ironie der Geschichte: Eine grosse Inschrift am Haus an der Plattenstrasse 52 am Zürichberg erinnert nicht etwa an den Gelehrtenretter Philipp Schwartz. Sie erinnert an den Chirurgen und Antisemiten Theodor Billroth (1829–1894). Der Erfinder der Bauchchirurgie und Brahms-Freund Billroth hatte einst im selben Haus gewohnt. Er hatte den Juden die Eignung zum Deutschtum abgesprochen.

Der Soziologe und Medizinhistoriker Gerald Kreft erforscht Leben und Werk von Philipp Schwartz. Er arbeitet an der Medizinischen Fakultät der Universität Frankfurt am Main, wo Philipp Schwartz bis zu seiner Flucht Professor war. Schwartz sei zu unrecht vergessen und werde nicht seiner Bedeutung gemäss gewürdigt: «In der Türkei ist Schwartz bis heute Abiturstoff, seine Notgemeinschaft taucht in der Schweizer Geschichtsschreibung überhaupt nicht auf», sagt Kreft.

Erst im April 2014 hat die Stadt Zürich Philipp Schwartz und seiner Frau Vera Schwartz Tschulok ein Ehrengrab eingerichtet.

Schwartz bleibt auch nach dem Krieg «deutschfeindlich»

Eine bittere Pille zum Schluss: Nach dem Krieg möchte Philipp Schwartz nach Deutschland zurückkehren. Doch dort will man ihn nicht. 1952 kehrt er Deutschland ganz den Rücken und geht in die USA. Rückblickend sagt Schwartz in einer Rede im Jahr 1972: «Ich möchte nicht versäumen, darauf hinzuweisen, dass meine Tätigkeit als Begründer und Entwickler einer Emigrantenorganisation in Deutschland nicht nur während der Hitlerherrschaft, sondern auch nach ihrem Zusammenbruch als deutschfeindlich betrachtet wurde.»