Heimlich, still und leise.

Surprise: Auch die Schweiz hat eine fest etablierte Neonazi-Szene, die als gewaltbereit eingestuft wird. Überwacht werden sie jedoch kaum.

Die jungen Männer johlen. Soeben haben sie einen orthodoxen Juden erblickt. Der Gläubige Mitte 40 ist auf dem Heimweg von der Synagoge, als sie sich ihm an einer Strassenkreuzung in Zürich-Wiedikon in den Weg stellen. Es ist der 4. Juli 2015, kurz vor 18 Uhr. Ein Anführer der rund 20-köpfigen Gruppe spuckt dem Gläubigen ins Gesicht und schreit «Scheissjude». Seine Kameraden feuern ihn an, strecken den Arm zum Hitlergruss aus. Jetzt schubst er den Juden, sagt ihm, dass er nach Auschwitz gehen soll. Erst als die von Passanten alarmierte Polizei eingreift, lassen die Männer ihr Opfer in Ruhe.

Die Angreifer sind militante Rechtsextreme, die Staatsanwaltschaft ermittelt. Im Gegensatz zu Deutschland, wo Gewalttaten von Neonazis Alltag sind, hält sich die Szene in der Schweiz bedeckt. Aufmärsche und Attacken wie am 4. Juli sind selten. Der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) schreibt in seinem aktuellen Lagebericht: «Rechtsextreme suchen nicht den grossen Auftritt, sondern halten sich von der Öffentlichkeit möglichst fern.» Fakt ist aber auch: In der Schweiz ist nach wie vor eine organisierte, gewaltbereite Neonazi-Szene aktiv. Der NDB schätzt die Anzahl gewaltbereiter Fremdenfeinde auf rund 1000 Personen. Ein Viertel davon ist nicht nur gewaltbereit, sondern auch gewalttätig. «Vereinzelt wurde festgestellt, dass Rechtsextreme den Umgang und Kampf mit Waffen trainieren», schreibt der NDB. Schusswaffen würden gesammelt, gehandelt und «gegebenenfalls auch eingesetzt». Und: Es sei anzunehmen, dass es in der Szene vielfach grössere Sammlungen funktionstüchtiger Waffen gebe.

Der Grossteil der Aktivisten lebt in den Kantonen Genf, Bern, Zürich, St. Gallen und Aargau. Laut dem NDB ist der Rechtsextremismus immer noch ein «eher ländliches Phänomen». Als wichtigste Organisationen treten seit Jahren Blood & Honour und die Schweizer Hammerskins in Erscheinung. Ihr Rückhalt in der Bevölkerung ist aber gering, sie vermögen die Szene nicht überregional zu bündeln. Die schweizweit aktive Partei National Orientierter Schweizer (PNOS) nahm an den letzten Nationalratswahlen teil – ohne Erfolg. Ihre Jubiläumsfeier zum 15-jährigen Bestehen blieb trotz internationaler Gäste ohne Resonanz.

Rassisten nicht nur am rechten Rand

Die Schweizer Rechtsextremisten beschränken ihre Aktivitäten momentan vor allem auf Propaganda-Aktionen gegen Flüchtlinge und Muslime. In einem kürzlich an Haushalte in der Nordwestschweiz verteilten Flyer schürte die PNOS Angst vor den ankommenden Migranten: «Bitte geht niemals abends alleine auf die Strasse. Speziell Bahnhöfe, Haltestellen und öffentliche Plätze sind Treffpunkt der Flüchtlinge.» Die Partei empfiehlt: «Legt euch Notrationen und Mittel zur ersten Verteidigung zu.» Der Aufruf wäre zum Lachen, würden es die Parteiverantwortlichen nicht ernst meinen. Militante Aktionen gegen Flüchtlinge blieben in der Schweiz bisher weitgehend aus. Keine brennenden Asylunterkünfte, keine Schlägereien, keine Krawalle. Der gravierendste Vorfall waren Hakenkreuz-Schmierereien rund um eine geplante Flüchtlingsunterkunft im thurgauischen Sulgen.

Die rassistische Rhetorik gegen Migranten übernehmen andere. Mit Erfolg: Im Sommer rief SVP-Präsident Toni Brunner die Bevölkerung auf, aktiven Widerstand gegen die offizielle Asylpolitik zu leisten. Die Bürger, so rief Brunner an einer Parteiversammlung in den Saal, sollten sich gegen neue Asylzentren wehren. Ziviler Ungehorsam, angestiftet von der grössten Schweizer Partei. Ein Spiel mit den Ängsten der Bevölkerung, ein Spiel mit dem Feuer. Denn wie gross das Misstrauen gegenüber den staatlichen Asyl-Behörden und den Flüchtlingen in gewissen Bevölkerungskreisen bereits ist, zeigen neben rassistischen Kommentaren auf Online-Plattformen auch fremdenfeindliche Aufläufe.

«Amden läuft Sturm gegen Asylsuchende», titelte die Zeitung Blick im Mai. Weil in der St. Galler Gemeinde 120 Flüchtlinge untergebracht werden sollten, artete eine Informationsveranstaltung des Kantons in tumultartige Szenen aus. «Die kommen hierher, fressen, saufen und leben in Saus und Braus.» Verschwinden sollen sie, die «Chrüzcheibe», so ein älterer Herr aus dem Dorf. Andere Pensionäre erzählten vor laufender Kamera, wie die Flüchtlinge ihre Frauen «anpöbeln und betatschen». Auch in anderen Gemeinden fanden rassistische Proteste gegen geplante Asylunterkünfte statt. Im Kanton Aargau versammelten sich Hunderte zum «Protestgrillen» in Aarburg und zu Demonstrationen in Bettwil. Offener Hass gegen Asylsuchende. Nicht von kahlrasierten Neonazis, sondern aus der Mitte der Gesellschaft.

Hohes Gewaltpotenzial

Die Neonazis schafften es bisher nicht, die fremdenfeindliche Stimmung für sich zu nutzen. Was passiert aber, wenn der Migrationsdruck auf die Schweiz wächst, wenn die Anzahl Asylgesuche wie in Deutschland in die Höhe schnellt? Gut möglich, dass dann nicht nur fremdenfeindliches Gedankengut salonfähig wird, sondern auch militante Protestformen zunehmen. Umso wichtiger wäre es, die rechtsextreme Szene scharf zu beobachten. Im Gegensatz zu den deutschen Behörden überwacht der Bund die Fremdenfeinde jedoch nicht. Registriert wird nur, wer Gewalt ausübt oder damit droht. «Wir betreiben keine Gesinnungsschnüffelei», sagt Verteidigungsminister Ueli Maurer. Dies führt dazu, dass Neonazis trotz Hakenkreuz-Tattoos ungehindert Militärdienst leisten können und extremistische Konzerte meist toleriert werden.

Ein fataler Fehler? Klar ist: Rassistisches Gedankengut kann schnell in Gewalt ausarten. Das zeigt nicht zuletzt die antisemitische Attacke von Wiedikon. Eine Tatsache, die auch den Behörden bewusst ist. In einem Nebensatz des neusten Entwurfes für einen Sicherheitspolitischen Bericht schreibt der Bundesrat: «In rechtsextremen Kreisen besteht ein terroristisches oder gewaltextremistisches Potenzial, das sich innert kurzer Zeit realisieren kann.»