Er trägt draussen keine Kippa mehr

Tages-Anzeiger.

Sie ernten Hass allein aufgrund äusserer Merkmale. Jüdische Menschen, wie der 20-jährige Jaron, sind auf Zürichs Strassen vorsichtiger geworden.

Sommer 2019 an einem heissen Nachmittag. Jaron T. steht an einer Bushaltestelle im Zürcher Quartier Friesenberg. Der 20-Jährige befindet sich gerade auf dem Weg zum Fussball, als er einen Mann bemerkt: Mitte dreissig, mit einer Bierdose in der Hand, mustert er Jaron von der Seite her. «Ich merkte gleich, dass etwas nicht stimmte.»

Nach einer Weile legt der Mann los: «Ihr Juden solltet hier besser keine Kippa mehr tragen», sagt er. Jaron, der nicht will, dass sein Nachname in der Zeitung erscheint, ist sofort alarmiert und stellt sich innerlich auf einen Kampf ein.

So weit kommt es aber nicht, stattdessen üble Beschimpfungen: Er solle zurückgehen, wo er herkomme, sagt der Mann in akzentfreiem Schweizerdeutsch. Der Mann flucht weiter und wird lauter: «Euer Land ist nicht mehr wert als ein Fliegenschiss. Wir werden mit euch kurzen Prozess machen.» Nach langen Minuten kommt endlich der Bus. Jaron steigt ein, der Mann bleibt zurück. Seine Worte werden ihn noch länger begleiten.

Vorsichtsmassnahme

Ein halbes Jahr nach dem Vorfall sitzt Jaron in einem Café, unweit der Bushaltestelle. Die Kippa hat er mittlerweile abgelegt. «Es ist ähnlich wie mit dem Kopftuch», sagt Jaron. Was fremd wirke, löse bei gewissen Menschen eine irrationale Wut aus. Die Kopfbedeckung trägt Jaron eigentlich nur noch bei religiösen Anlässen.

Es ist auch eine Vorsichtsmassnahme – «nicht aus Feigheit», wie Jaron betont, sondern weil solche Eskalationen seinen Alltag beeinträchtigen. Schon mehr als einmal hatte er Probleme – allein weil er als Jude erkennbar ist. Ohne Kippa fühlt sich Jaron nicht weniger jüdisch: «Was wirklich zählt, ist das, was ich glaube, und nicht, was ich auf dem Kopf trage.»

Der Hass auf alles Jüdische; er ist in Ländern wie den USA, Deutschland oder Frankreich auf dem Vormarsch und schlägt nicht selten in Gewalt um. Auch in der Schweiz wird vermehrt gegen Juden gehetzt, wenn auch in einer etwas subtileren Form. Das belegt auch der diesjährige Antisemitismusbericht des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG).

Zum Judentum konvertiert

Dennoch fühlt sich Jaron wohl in Zürich. Seine Eltern und er konvertierten einst zum Judentum. Jaron wurde mit 13 vor die Entscheidung gestellt, ob er sich definitiv zum jüdischen Glauben bekennen will. Er hat sein damaliges Ja nie bereut. «Ich bin stolz, Schweizer zu sein, ich bin stolz, ein Jude zu sein.»

Jaron besuchte die jüdische Primarschule. Später wechselte er in die Kantonsschule Enge. «Für mich öffnete sich damals eine neue Welt», sagt Jaron. Er verliess sein behütetes, jüdisches Umfeld und mischte sich unter Nichtjuden. Das Zusammenleben sei problemlos verlaufen, er schloss Freundschaften über Kulturen hinweg. Es kam zu Annäherungen mit nicht jüdischen Frauen. Doch für Jaron ist klar: «Die Frau, die ich heiraten werde, sollte jüdisch sein.» Kinder kommen im Jüdischen nach der Mutter. Nur wenn die Mutter jüdisch ist, sind es die Kinder auch.

Morgengebet gehört dazu

Ohne Kippa ist Jaron einer unter vielen, die Religiosität ist dem Mitglied der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich nicht anzusehen. Dabei gehört das Morgengebet zu seinem Tagesritual, inklusive Tefillin – mit Lederriemen versehener Gebetskapseln, die heilige Schriften enthalten.

An Sabbat ist für Jaron Arbeiten tabu. Dadurch musste er auch seinen einstigen Traumberuf Pilot aufgeben. Ein Pilot, der samstags nicht arbeitet – unmöglich. Die Mizwot – jüdische Vorschriften – befolgt er, aber nicht bis ins Detail. Es sind ja auch Hunderte. Im Café bestellt er eine Ovomaltine mit Milch aus nicht koscherer Verarbeitung. Für Jaron kein Problem.

Wie wichtig Offenheit sei, erfahre er durch sein Engagement für das Projekt Likrat. Jaron tritt vor Schweizer Schulklassen und berichtet über das jüdische Leben. Seine Ziele: Interesse wecken, Vorurteile abbauen und Stereotype beseitigen. Die Reaktionen seien sehr positiv, sagt Jaron. Das führt ihn zum Schluss: «Wir müssen mehr miteinander reden, statt nur nebeneinander zu existieren.»

Dennoch gibt es sie; die gesellschaftlichen Gräben, Stereotypen oder politischen Spannungsfelder – das erlebt auch Jaron, nicht nur an der Bushaltestelle. Mit einem Freund spazierte er vor zwei Jahren durch Zürich. Ein Mann überholte sie mit dem Velo und rief «Free Palestine». Der Mann drehte sich nochmals um und sagte: «Ihr seid doch Juden, oder etwa nicht!?»

Israelischer Pass als Ziel

Jaron möchte sein Leben in Zürich verbringen, seiner Heimat. Doch eine Frage beschäftigt ihn: Was, wenn sich die Bedrohungslage weiter verschlimmert? Wie in Frankreich, wo es in den letzten Jahren zu einer jüdischen Abwanderung nach Israel kam.

Jaron fasste einen Entschluss: In diesem Sommer wird er in einen religiösen Kibbuz nach Israel ziehen. So, wie es bereits sein Bruder und viele seiner Altersgenossen in der Schweiz getan haben. Sein Ziel: dem Land, das so vielen geflüchteten Juden eine Heimat bot, etwas zurückzugeben. Zudem möchte Jaron den israelischen Pass erwerben: «Vielleicht wird mir dieser einmal von Vorteil sein.»