Eidgenossen, Schweizer und «Switzers»

Tages-Anzeiger: Im Schwitzkasten der Debatte um die nationale Identität der Schweiz.

Momentan bevölkern grossformatige Plakate mit Porträts von Menschen verschiedenster Herkunft Zürichs Hauptbahnhof und die Europaallee. Die «Switzers», so der Name der Ausstellung, sollen ab Januar 2016 auch in andere Schweizer Städte reisen, so das Reden über die nationale Identität der Schweiz um einen weiteren Begriff erweitern und etwas Bewegung in die festgefahrene Debatte bringen. Klar ist: Die Ausstellung trifft einen Nerv unserer Zeit, denn die Frage, wer mit vollen Rechten und Pflichten zu unserer Gesellschaft gehören darf, erweist sich nicht erst seit der erneuten Ablehnung der erleichterten Einbürgerung für hier aufgewachsene Ausländerinnen und Ausländer im Jahr 2004 und dem etwa gleichzeitigen Aufkommen des Begriffs «Eidgenossen» in der Bedeutung von «ethnisch reine Schweizer» als zunehmend umstritten und belastend für den Zusammenhalt unserer Gesell­schaft.

Neue Eidgenossen

Bis vor etwa zehn Jahren galten beide Komponenten des 1848 geprägten Staatsnamens «Schweizerische Eidgenossenschaft» als Synonyme. Dem Substantiv «Eidgenossen» wurde seit dem 19. Jahrhundert meist das Adjektiv «alt» vorangestellt, um klarzumachen, wen man meinte, nämlich die politischen Akteure des 1798 durch französische Revolutionsarmeen besiegten Ancien Régime. Dies änderte sich ab Mitte der Nullerjahre des 21. Jahrhunderts, als zunächst rechtsextreme, dann immer breiter werdenden Bevölkerungskreise begannen, «Eidgenossen» nicht mehr als historische Figuren, sondern als «echte» Schweizer und Schweizerinnen zu verstehen.

Die Medien hinkten einer Entwicklung hinterher, die in ihren Grundzügen schon abgeschlossen war. Im August 2010 skandalisierte der «Tages-Anzeiger» eine Interviewaussage von Schwingerkönig Christian Stucki: «Schweizer kann jeder werden, Eidgenosse nicht.» Die Zeitung stellte den Satz in den Kontext der fast gleich lautenden Zeilen eines Neonazi-Songs. 2013 thematisierte «20 Minuten» das Stelleninserat einer Firma aus dem Luzerner Hinterland, die als Landmaschinenmechaniker einen «interessierten Eidgenossen» suchte, was die NZZ veranlasste, dazu aufzurufen, den Begriff «Eidgenosse» öffentlich zu diskutieren. Anders als die NZZ-Leserschaft meinte, hatte sich aber zu jenem Zeitpunkt der neue Sprachgebrauch nicht nur auf dem Land, in der Armee oder beim Fussball durchgesetzt. Auch in urbanen Gegenden wurden und werden zum Beispiel Lehrer von Schülern mit oder ohne ausländische Wurzeln frei von bösen Absichten und zu hundert Prozent wertneutral mit der Frage «Sind Sie Eidgenosse?» traktiert. Dass unterdessen sogar jene, die als «Papierlischweizer» geschmäht werden, an die Existenz ethnisch reiner Schweizer glauben, irritiert dabei besonders.

Alte Eidgenossen

Das Wort «Eidgenossenschaft» ist mit klarem räumlichem Bezug auf die heutige Schweiz erstmals 1351 im schriftlich überlieferten Bund von Uri, Schwyz, Unterwalden und Luzern mit Zürich belegt. Es ist damit um einiges älter als die «Schweiz», welche als Oberbegriff für die gesamte Eidgenossenschaft von «Schwyz», dem im Spätmittelalter söldnerreichsten und daher europaweit bekanntesten eidgenössischen Ort, hergeleitet zunächst als Fremdbezeichnung in den Nachbarländern gebräuchlich war. Es vermochte sich als dominierende Selbstbezeichnung aber erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchzusetzen.

Schon bald nach ihrem Untergang wurde die Alte Eidgenossenschaft von konservativen Politikern als Kampfbegriff gegen die moderne und liberale Schweiz eingesetzt, welche teils seit der helvetischen Revolution und vollends seit der Gründung des Bundesstaats 1848 den Ton angab. In den Dreissigerjahren des 20. Jahrhunderts erkannten Vordenker der rechtsextremen, mit Hitler und Mussolini sympathisierenden Frontenbewegung im vorrevolutionären Ständestaat eine schönere, bessere Vergangenheit, in die sie zurückkehren wollten, und beriefen sich in ihren antijüdischen Propagandaschriften auf den angeblichen Fremdenhass der alten Schweizer.

An diese Tradition knüpft seit einigen Jahren die neonazistische Partei National Orientierter Schweizer an, wenn sie sich auf ihrer Homepage als «Partei der Eidgenossen» bezeichnet und mit dem Morgenstern vor dem langschenkligen Schweizer Kreuz direkt aus der alteidgenössischen Symbolik der Frontenbewegung schöpft.

Der Begriff «Eidgenossen» als «echte Schweizer» hat sich erst in den letzten zehn Jahren zu dem entwickelt, was er heute ist. Doch die in der Kombination zwischen ethnischem Reinheitsgedanken und Faszination für die Alte Eidgenossenschaft sichtbare Geisteshaltung erinnert so deutlich an das rassistische Weltbild der Schweizer Frontisten, dass sich ernsthaft die Frage stellt, ob Teile dieses Weltbilds unerkannt überlebt haben und nun im Begriff sind, sich mitten in unserer Gesellschaft weiter auszubreiten.

Helvetik und Willensnation

Typischerweise steht der objektiven Neuheit der Nationen, welche vor dem Ende des 18. Jahrhunderts noch nirgends existierten, das subjektive Alter in den Augen der Nationalisten gegenüber. Kontinuität behauptende Rückgriffe auf eine vorgeblich gemeinsame Geschichte kennt auch die Schweiz: Seit dem 18. Jahrhundert wurden von aufklärerischen und revolutionären Kräften die keltischen Helvetier als wahre Vorfahren der Schweizer Bevölkerung und als nationale Projektionsfläche ins Spiel gebracht; erstmals hatte der Chronist Aegidius Tschudi im 16. Jahrhundert in zeittypisch antikisierender Renaissance-Manier Teile des Territoriums der damaligen Eidgenossenschaft (historisch korrekt ohne Basel, Jura-Region, Genf, Wallis, Tessin und Rätien) als Heimat der Helvetier beschrieben und gleichzeitig «Helvetien» als übergeordnete Bezeichnung für den gesamten Staatenbund eingeführt.

Nach der Zeit der Helvetischen Republik (1798–1803) stand «helvetisch» definitiv für den Sieg über die Alte Eidgenossenschaft und für die Rechtsgleichheit zwischen Städten und Landgebieten sowie zwischen den verschiedenen Sprachregionen.

Viel wirkungsmächtiger als die Helvetier-Begeisterung des 18. und 19. Jahrhunderts (von der noch heute sämtliche Schweizer Rappen- und Fünffrankenstücke sowie international der offizielle Landesname auf Griechisch und Rumänisch zeugen) war für die Schweiz des 20. Jahrhunderts jedoch die Erzählung von der Eidgenossenschaft als auf gemeinsamem Freiheitswillen, staatlichen Institutionen und gegenseitiger Solidarität begründeter Willensnation, rückblickend verkörpert in der Gestalt Wilhelm Tells, in den schwörenden Männern auf dem Rütli oder in den spätmittelalterlichen Unabhängigkeitskämpfen gegen die habsburgischen Grafen, Herzöge und Könige.

Während und nach dem Zweiten Weltkrieg wurde diese in einer ersten Phase nach der Staatsgründung 1848 eher als offen und fortschrittlich verstandene Geschichtsversion im Rahmen der gegen Faschismus und Kommunismus gerichteten Geistigen Landesverteidigung weiter ausgebaut und blieb – ergänzt durch geografische (Gotthard-Massiv als Sinnbild der Heimat) und ethnische Elemente («Homo alpinus helveticus» als Inbegriff des Urschweizers) – bis um 1990 die dominierende Erzählung von der schweizerischen Nation. Obwohl der politisch begründete Ansatz der Willensnation auch emanzipatorische und integrative Gangarten des «nation building» ermöglichte, waren die in der Schweiz am zähesten tradierten Erzählstränge der Abwehr äusserer Feinde und einer rückwärtsgerichteten Verklärung der militärischen Leistungsfähigkeit der Schweiz verhaftet.

Switzers als Schweizer «light»?

Die Utopie von der «freien Schweiz» als einer grundsätzlich jedem Menschen offenstehenden, pluralistischen Willensgemeinschaft, der alle beitreten können, die Toleranz, Verantwortung, Solidarität und allenfalls weitere, neu auszuhandelnde Werte anstreben, steht heutzutage in der Schweizer Politik auf keiner Tagesordnung. Wohl genau deshalb geht das eingangs erwähnte, gross angelegte Kunstprojekt «Switzers. Die 195 Nationen der Schweiz» unter Leitung des Werbefilmers Reiner Roduner über die Bühne. Die Ausstellung in Zürich steht unter dem Patronat der Stadtpräsidentin Corine Mauch. Auch Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga sitzt im Patronatskomitee, unter den Partnern und Sponsoren wird auf der projekteigenen Homepage das im Justiz- und Polizeidepartement angesiedelte Staatssekretariat für Migration genannt, welches in diesem Fall offenbar dem in der Verfassung festgeschriebenen Integrationsauftrag nachgeht.

Die im Hauptbahnhof und an der Europaallee ausgestellten Poster zeigen Porträts von Frauen und Männern, die sich als moderne Menschen präsentieren, die, so stellt man sich vor, studieren, im Arbeitsleben stehen, Familien gründen und Schweizer Freunde haben. Am unteren Bildrand sind Vornamen und Herkunft sowie ein kurzes Statement abgedruckt. María Soledad aus Uruguay beispielsweise wird mit dem Satz zitiert: «Ich war zwei Monate hier, da hörte ich Alphornklänge – und musste weinen. Von da an war die Schweiz in meinem Herzen.»

Switzers sind fröhlich, liebenswert, auf sympathische Weise beliebig. «Identität ist ständig in Bewegung und wird laufend neu definiert von allen Menschen, die zu einer Gesellschaft gehören. Diesen Prozess zu erkennen, setzt Offenheit, gegenseitige Achtung und Toleranz voraus», ist auf der Projekt-Homepage zu lesen. Doch kann der Slogan «Eine Nation aus 195 Nationen» eingefleischte Fremdenhasser eines Besseren belehren?

Skepsis ist angebracht. Allenfalls lenkt die mit Bundesgeldern finanzierte Kampagne zusätzliches Wasser auf deren Mühlen, klingt doch die Rede von den «Switzers» so, als gäbe es neben den richtigen Schweizern eine Kategorie von Schweizerinnen und Schweizern «light». Doch wo sind diejenigen, die nicht hip sind, die Probleme haben oder machen, keine Lehrstelle finden oder ohne gültige Papiere in der Schweiz leben? Das englische Neuwort, schaut man es genauer an, vertieft trotz seiner spielerisch anmutenden, vordergründig emanzipatorischen Internationalität die Unterscheidung zwischen «echten» und «unechten» Schweizerinnen und Schweizern.

Foto: Urs Jaudas