Dr. Conti, der Schweizer Nazi

Basler Zeitung: Wie ein Tessiner Arzt unter Hitler grosse Karriere machte – eine Geschichte, die hierzulande niemand kennt

Ein Mann blickt in die Kamera, es ist der 7. August 1945. Zwei Schwarz-Weiss-Fotografien zeigen ihn, einmal von vorne, einmal im Profil. Blondes Haar und blaue Augen, heisst es im Protokoll darunter. 55 Kilogramm auf 1.73 Meter, vier falsche Zähne, drei Goldfüllungen. Name: Leonardo Conti. Geburtsdatum: 24. August 1900. Geburtsort: Lugano, Switzerland.

Der Zweite Weltkrieg war vorbei, und die Siegermächte planten, die führenden Nazis in Nürnberg vor Gericht zu stellen. Leonardo Ambrogio Giorgio Giovanni Conti, wie er mit vollem Namen hiess, war einer von ihnen. Ein Schweizer, der sich im Nazi-Regime bis zum Reichsgesundheitsführer hochgedient hatte, war am Ende seiner Karriere angelangt – und bald auch am Ende seines Lebens.

Die Geschichte von Conti ist bis heute wenig bekannt. Im Krieg hatte ihn ein Konkurrent von der Macht verdrängt. Nach dem Krieg entzog er sich dem Gericht. «Weil Conti suizidierte, ist er dem Radar der Öffentlichkeit entwischt», sagt Wolfgang Uwe Eckart, Medizin-Historiker an der Universität Heidelberg. «Es ist sehr wahrscheinlich, dass auch er ansonsten zum Tode verurteilt worden wäre.»

Zwischen Lugano und Nürnberg, zwischen 1900 und 1945, liegen eine kurze Kindheit in der Schweiz, eine mütterliche Vorbereitung auf künftige Verbrechen und all das, was Conti schliesslich nach Nürnberg führte.

Fehlender Vater, prägende Mutter

Nanna Pauli, ein zwölfjähriges Mädchen aus Deutschland, kam 1893 mit ihrer Familie ins Tessin. Der Vater, ein Gymnasiallehrer, unterrichtete am Liceo Lugano, wenn er nicht gerade krank war. Auch das milde Klima hatte die Paulis ins Tessin gezogen.

Nanna heiratete mit 16 Jahren den 25-jährigen Silvio Francesco Conti, einen Schweizer aus Monteggio. Er war Posthalter, wobei ihn Nanna Conti, wie sie nun hiess, später gerne zum Post­direktoren erklärte. 1903 wurde er «wegen mangelnder Leistungen» entlassen, aber da lebte Nanna bereits von ihm geschieden in Deutschland.

In vier Jahren Ehe war Nanna Conti fast nie nicht schwanger. Vier Kinder starben, drei blieben: Silvio, Leonardo und Camilla. Die Namen zeugen von einer kulturellen Offenheit, die Nanna Conti bald ablegen sollte.

Die Scheidung wurde in Zürich vollzogen. Im Urteil heisst es, die Ehe sei nach der Geburt des ersten Kindes unglücklich geworden. Silvio Conti habe die Frau «brutal behandelt», viel geschimpft, Geld verbraucht und generell ausschweifend gelebt. Dass Conti noch während des Verfahrens mit einer Varietétänzerin nach London verschwand, mehrte seinen Ruf am Gericht ebenfalls nicht. Nanna Conti erhielt das alleinige Sorgerecht, und womöglich war es diese frühe Erfahrung, die sie später glauben liess, Mischehen wie die ihrige taugten zu nichts.

In Magdeburg liess sich Nanna Conti zur Hebamme ausbilden und lebte mit ihren Kindern bald in Berlin. 1914, der Erste Weltkrieg war eben ausgebrochen, beantragte sie für sich und die Kinder die deutsche Staatsbürgerschaft. Die Familie wurde geprüft und ihr Antrag genehmigt. Dass Nanna Conti «geschlechtlichen Verkehr» mit einem verheirateten Mann gehabt haben soll, sprach zwar gegen eine Einbürgerung, aber die Beobachtungen waren eingestellt worden, weil sie ihren «unmoralischen Lebenswandel» aufgegeben habe, wie ein Polizeiprotokoll vermerkt.

Zwei Conti-Karrieren verliefen schon früh parallel zueinander. Nanna Conti, die alleinerziehende Mutter, sollte die oberste Hebamme im nationalsozialistischen Staat werden, ihr Sohn brachte es zum Reichsgesundheitsführer und Staatssekretär.

Als Adolf Hitler in Wien seine Aquarelle malte, las der junge Leonardo Conti in Berlin antisemitische Propagandaschriften, mit denen ihn seine Mutter versorgte. Völkisch-national, so dachte er, und er steigerte sich so sehr in seinen Rassenwahn, dass er als Teen­ager das Gymnasium wechselte, weil ihm zu viele Juden in der Klasse waren.

Vom Tessin blieb vermutlich nicht viel übrig in der Familie Conti, wohl nur dieser Name, der sie auch in Zukunft an ihre Herkunft erinnerte. Doch weiss man nur wenig über den Schweizer Nazi. Sprach Conti Italienisch? Gab ­ es Ferien beim Vater im Tessin, Kontakt zu den Verwandten? Vieles ist unerforscht. Selbst der emeritierte Basler Geschichtsprofessor Georg Kreis, ein Experte für die Geschichte der Schweiz im Zweiten Weltkrieg, weiss auf Anfrage nichts zu erzählen.

Rechter Radau-Student

Leonardo Conti drängte zum Krieg. Im Frühjahr 1918 machte er das Notabitur, im Juni stiess er als Freiwilliger zum Feldartillerie-Regiment 54 in Küstrin. Wenige Monate später war der Erste Weltkrieg zu Ende, ohne dass Conti je zum Einsatz gekommen wäre. Als im November der Kaiser abdankte, engagierte sich Conti auf einer Soldatenversammlung in Küstrin gegen revolutionäre Agitatoren. Der Krieg gegen innen ersetzte den Krieg gegen aussen.

Fortan wollte Conti nichts mehr verpassen. Er warf sich in jeden Kampf von rechts gegen links. 1919 duellierte er sich in einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung mit Karl Liebknecht, dem Anführer der Kommunisten; wenig später war Liebknecht tot, ermordet von rechten Freikorps-Offizieren.

Conti bekämpfte den Spartakusaufstand von 1919 und unterstützte den Kapp-Putsch von 1920, und kaum hatte er das Medizinstudium aufgenommen, beteiligte er sich am Radau der rechten Studenten an der Universität Berlin. Sein Studium beendete er 1923 in Erlangen, seinen Doktortitel erhielt er 1924 in Berlin. Dr. Leonhard Conti, Stolz seiner Mutter, war nun bereit für seinen Dienst an der rechten Sache.

Inzwischen war Adolf Hitler von Wien nach München übergesiedelt, wo er 1923 vergeblich versucht hatte, die Ordnung zu stürzen. Conti volontierte in Berliner Kinderkrankenhäusern, er­­hielt aber keine Stelle als Assistenzarzt, weil er offen mit der völkischen Bewegung sympathisierte. Er machte sich als Kinderarzt selbstständig und schrieb nebenher politische Artikel, in denen er die Tötung physisch und psychisch kranker Menschen, die sogenannte Euthanasie, befürwortete. Am 20. De­zember 1927 wurde er Mitglied Nummer 72 225 der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP). Es sollte sich als bedeutender Karriereschritt erweisen.

Im Privatleben kam Conti schneller voran. 1925 heiratete er Elfriede Freiin von Meerscheidt-Hüllessem, die Enkelin eines Admirals, was seinen gesellschaftlichen Ehrgeiz veranschaulicht. Elfriede Conti überlebte ihren Mann um fast sechzig Jahre und starb erst 2002, wobei sie sich nie von ihren rechtsex­tremen Anschauungen distanzierte, wie die Historikerin Anja Katharina Peters schreibt. Das Paar hatte vier Kinder, geboren zwischen 1926 und 1936; drei von ihnen überlebten.

Von Göring gefördert

Mit dem Aufstieg von Hitler kam auch die Karriere von Leonardo Conti in Schwung. 1931 erfolgte die Wahl in die Berliner Ärztekammer, 1932 wurde er in den Preussischen Landtag gewählt. Conti war nun ein erfolgreicher Berufs- und Familienmann. Die nächsten Jahre zählten doppelt, so schnell katapultierte es Leonardo Conti, den Buben aus dem ­Tessin, nach oben. Hitler und seine Komplizen zeigten sich grosszügig mit den frühen Jüngern des völkischen Glaubens.

Am 30. Januar wurde Hitler als Kanzler des Deutschen Reichs vereidigt, am 13. Februar 1933 ereilte Conti ein Ruf aus dem Preussischen Ministerium des Innern. Hermann Göring, die ­Nummer zwei des Regimes, machte aus ihm einen «Staatskommissar zur besonderen Verwendung». Seine Aufgabe: «Säuberung des Gesundheitswesens». Conti nutzte die Gelegenheit, um «mit allen Mitteln gegen Ärzte des jüdischen Glaubens oder jüdischer Herkunft vorzugehen», schreibt der Historiker Hans-Walter Schmuhl.

Doch im polykratischen System des Nationalsozialismus lagen persönlicher Erfolg und Misserfolg nah beieinander. Während Conti in der Verwaltung aufstieg, wurde er im April 1933 zwischenzeitlich aus der elitären Schutzstaffel (SS) der NSDAP ausgeschlossen, weil er seine Ernennung zum Beamten nicht von der SS-Führung hatte genehmigen lassen. Später brachte es Conti, SS-Mitglied Nr. 3982, noch bis zum SS-Obergruppenführer, dem zweithöchsten Generalsrang.

Staatssekretär unter Hitler

Als 1936 in Berlin die Olympischen Spiele stattfanden, organisierte er den Gesundheits- und Sanitärdienst, was ihm Lob und das Präsidentenamt des Internationalen Sportärzteverbands eintrug. Conti hatte ein gewinnendes Auftreten, er war «jung, blendend aussehend, im Umgang sehr gewandt, eloquent» und entsprach «in keiner Weise dem Klischee eines fanatischen ‹Alten Kämpfers›», schreibt Schmuhl.

1938 kreuzten sich Karrieren von Mutter und Sohn. Nanna Conti war inzwischen zur Leiterin der «Reichsfachschaft Deutscher Hebammen» aufgestiegen und arbeitete am neuen Hebammengesetz, ebenso Leonardo Conti, dessen grösste Karriereschritte eben bevorstanden. Am 20. April 1939 wurde er zum Reichsgesundheitsführer der NSDAP ernannt, am 27. August machte ihn Adolf Hitler zum Staatssekretär im Reichsinnenministerium.

Die Presse präsentierte eine geschlossene Biografie, das Leben eines Muster-Nazis: Geboren als «Sohn deutscher Eltern in Lugano» (

Deutsche Allgemeine Zeitung

), habe Conti noch im Frühsommer 1918 den Krieg mitgemacht (

Frankfurter Zeitung

). «In den Kämpfen der Revolutionszeit, beim Spartakusaufstand, beim Kapp-Putsch usw. stand Dr. Conti als nationaler Student stets in vorderster Front» (

Nationalsozialistische Landpost

). Hervorgehoben wurde die «ärztliche Betreuung, die er dem schwer verwundeten Horst Wessel angedeihen lassen konnte» (

Deutsche Allgemeine Zeitung

). Wessel, ein junger Nationalsozialist, war 1930 von Kommunisten ermordet worden. Die NSDAP machte aus ihm einen ­«Blutzeugen», einen «Märtyrer der Bewegung».

Conti war nun der oberste zivile Mediziner des Deutschen Reichs. Aber an der Spitze der Macht angelangt, begann auch sein allmählicher Niedergang. Conti warnte etwa vor den verheerenden Folgen des Aufputschmittels Pervitin, auch Panzerschokolade ge­nannt, das massenhaft an die Wehrmachtsoldaten verabreicht wurde. Mit seinen Bedenken drang er aber nicht durch. Hitler selbst liess sich täglich Pervitin spritzen.

«Im Verlauf des Krieges schwand Contis Macht», sagt Medizinhistoriker Eckart, alle Fäden seien bald bei Karl Brandt, Hitlers Begleitarzt, zusammengelaufen. Hitler betraute Brandt mit der Durchführung des Euthanasie-Programms, und jährlich schmückte er ihn mit neuen Titeln. Zuständigkeiten und Hierarchien zwischen Conti und Brandt wurden zusehends unübersichtlich. Conti klagte in einem Brief über das «Ende jeder autoritären Führerschaft und den Beginn des Chaos».

1943 kehrte eine gewisse Ordnung zurück. Hitler ernannte Karl Brandt zum Generalkommissar. Dieser war nun der Vorgesetzte von Conti. Brandt sei zum «Überdiktator im NS-Gesundheitswesen» geworden, sagt Eckart.

Mord per Injektion

Conti versank in Agonie. Im Sommer 1943 schrieb er an einem Rücktrittsgesuch – und schickte es nie ab. Später soll er eine Emigration in die Schweiz oder nach Schweden geplant haben. Aber Conti blieb, und blieb auch im Amt. Dennoch schien damals in der Familie etwas zerbrochen zu sein: Zum ersten Mal seien ihr «auch Zweifel an Adolf Hitler selbst als einer edlen und treuen, lauteren Persönlichkeit» gekommen, schrieb Nanna Conti ein Jahr nach dem Krieg.

Die Zweifel betrafen jedoch nur Fragen des Charakters, von der Richtigkeit der verbrecherischen Ideologie blieb man überzeugt. Contis ganze Karriere war eine Verwicklung in Schuld: «Er wusste von den Euthanasie-Morden», sagt Eckart, «das ist sicher.» Als sehr wahrscheinlich gilt auch, dass Conti 1940 bei einem Menschenversuch mitmachte, bei dem eine Testgruppe durch Giftgas getötet und die andere durch Injektionen ermordet wurde. «Auch Conti selbst soll dabei Injektionen gesetzt haben», so Eckart.

Am 30. April 1945 beging Hitler Selbstmord, am 19. Mai wurde Conti in Flensburg von den Alliierten verhaftet und bald als führender Nazi nach Nürnberg überstellt. Am 6. Oktober 1945 fand man ihn erhängt über der WC-Schüssel seiner Zelle. In einem Abschiedsbrief grüsst er Mutter, Frau und Kinder. Er sei «kein Krimineller» schreibt Conti, er habe unter «Depressionen» und «Todesideen mit Furcht und Visionen» gelitten.

«Swiss Sadist» sollen ihn die Alliierten genannt haben, heisst es mancherorts im Internet. Verlässliche Quellen gibt es nicht. Auch Medizinhistoriker Eckart hat davon nie gehört. Die Historikerin Anja Katharina Peters schreibt, Leonardo Conti soll bis zuletzt Schweizer Staatsbürger geblieben sein und die doppelte Staatsbürgerschaft besessen haben.

Sicher ist, dass mit dem italienisch-schweizerischen Namen stets etwas Fremdes an Leonardo Conti haften blieb. Obschon er ein fanatischer Antisemit und geradezu orthodoxer Nationalsozialist war, dürfte sein Name dafür gesorgt haben, «dass er in SS-Kreisen vielen suspekt blieb», mutmasst Eckart.

Grabstein im Tessin

Sechzig Jahre nach Contis Tod entdeckte man auf dem Nürnberger Südfriedhof seinen Namen auf einem Grabstein für italienische Zwangsarbeiter. Vermutet wird, dass Contis Überreste bei einer Umbettung dorthin kamen, in der Annahme, es handle sich bei ihm um ein Opfer des Nationalsozialismus. Kurz wurde ein Transfer der Gebeine in die Tessiner Heimat von Conti erwogen. Allein die Vorstellung entsetzte Politiker in Lugano und Monteggio, wie die

Tessiner Zeitung

damals berichtete.

Unbeachtet von der Öffentlichkeit steht aber schon seit Jahrzehnten ein Grabstein der Contis in Castello Monteggio. Der Bielefelder Friedhof hatte ihn nach dem Tod von Nanna Conti zu den Verwandten ins Tessin gesendet. Und da, auf dem ehemaligen Familiengrundstück, soll er bis heute stehen. Ein Stein, auch mit den Initialen des Schweizer Nazis, der unter Hitler aufstieg und fiel: Leonardo Conti Dr. med. – 24. August 1900, Lugano, 6. Okt. 1945, Nürnberg.