Die Pandemie als Nährboden für rechte Bewegungen

Das Lamm. In den vergangenen Monaten haben sich zahlreiche Organisationen von Verschwörungsgläubigen und Gegner:innen der Corona-Massnahmen gegründet. Als Reaktion darauf hat sich das linke Bündnis gegen Rechtsabbiegen konstituiert. 

Das Lamm: Was ist das „Bündnis gegen Rechtsabbiegen“?

BGRA: Wir sind ein überregional organisiertes Netzwerk und verstehen uns als Teil der ausserparlamentarischen Linken. Wir bestehen aus mehreren Dutzend Personen und Organisationen aus der ganzen Schweiz, die sich vor einigen Monaten zusammengeschlossen haben, um Antworten auf den Rechtsrutsch in der aktuellen pandemischen Lage zu diskutieren und eine linke Kritik an dem Umgang mit der Pandemie zu formulieren.

Das ist also alles sehr neu?

Wir treten jetzt öffentlich in Erscheinung, weil mit den Protesten gegen die staatlichen Corona-Massnahmen ein nationalistisches, wissenschaftsfeindliches und politisch sehr beängstigendes Klima geschaffen wurde. Seit geraumer Zeit werden im ganzen Land Fackelmärsche durchgeführt, Neonazis marschieren an der Spitze von Demos und rechte Schlägertrupps tauchen in Städten auf.

Die von Euch beschriebenen Szenarien klingen besorgniserregend.

Hinzu kommt der in der Bewegung der Massnahmengegner:innen offen propagierte Antisemitismus, die Parallelen zum Nationalsozialismus sowie die Verdrehung und Verharmlosung historischer Gräueltaten. Das ist alarmierend. Deswegen ist es für uns unabdingbar, klar und deutlich dagegen Position zu beziehen.

Worin besteht Eure konkrete Arbeit?

Wir widmen uns der Recherche zu Entwicklungen von Verschwörungsmythen und dem daraus folgenden Erstarken von nationalistischen und reaktionären Gruppen. Wir wollen aufklären und aufzeigen, inwiefern antiwissenschaftliche Inhalte rechtsextreme Narrative in die Mitte der Gesellschaft tragen. Ausserdem wollen wir eine linke Kritik am Staat äussern und diese wieder mehr ins Zentrum der Diskussion rücken.

Weshalb?

Weil wir aufzeigen möchten, dass es sehr wohl möglich ist, Kritik an den Massnahmen auf nationaler sowie internationaler Ebene zu üben – ohne mit Nazis zu marschieren. Es gibt jahrzehntealte Bewegungen gegen autoritäre Überwachungs- und Kontrollstrukturen, die äusserst antikapitalistisch sind.

Wie hängen rechtes Gedankengut und Verschwörungsideologien zusammen?

Rechte Propaganda, Sündenbockpolitik und Verschwörungsideologien sind abhängig voneinander und funktionieren nach dem Motto: „Wir“ (die Guten) werden von „ihnen“ (den Bösen) bedroht.

Reaktionäre Ideen brauchen Misstrauen, konstruierte Feindbilder und antiwissenschaftliche Ideen, um ihre Existenz zu rechtfertigen. Ängste sind der ideale Nährboden für nationalistische Bewegungen mit in Teilen faschistischen Zügen, wie es die Massnahmengegner:innen sind.

Gerade der Begriff des Faschismus wird ja auch vonseiten der Massnahmengegner:innen verwendet, um die derzeitige Lage zu beschreiben. Wie ist das einzuordnen?

Es gibt ein paar einfache Grundsätze, die über die verschiedenen Faschismus-Theorien gleich bleiben: Faschistische Ideologien sind immer nationalistisch, autoritär und antiliberal. Zudem ist Faschismus ein gesellschaftliches Aufkommen von extrem reaktionären Kräften. Faschismus ist nicht einfach ein Begriff für alles, was einem gerade nicht passt.

Der Faschismus-Vergleich mit den staatlichen Massnahmen in der aktuellen Situation ist also nicht nur verfehlt, sondern ein strategisches Vorgehen der reaktionären Kräfte: Indem die Rechten und Massnahmengegner:innen alles Mögliche als „faschistisch“ bezeichnen, entschärfen sie den Begriff. Dann ist es auch kein so grosses Problem mehr, wenn ihre eigene Bewegung – die tatsächlich faschistische Züge hat – so bezeichnet wird.

Was sind denn die genauen Ziele dieser Bewegungen? Die Massnahmen sind mittlerweile ja grösstenteils aufgehoben, doch die Demos gehen weiter.

Die Bewegung – zumindest jener Teil, der sich bis heute noch gehalten hat – ist sich in ihrer perspektivischen Zielsetzung noch nicht einig; abgesehen davon, dass alles wieder „wie früher“ werden solle. Auch gibt es nach wie vor eine Vielzahl von Motivationen wie Geld, Angst, Wut, Mitgliederrekrutierung, Strassengewalt und so weiter, um gegen die Massnahmen auf die Strasse zu gehen.

Dennoch zeichnet sich die grosse Einigkeit auf der Strasse stark über visuelle Aspekte wie die nationalistische Symbolik aus. Die akzeptierten Slogans sind „Friede, Freiheit, das Volk ist souverän“, was auch inhaltlich den starken Nationalismus dieser Bewegung widerspiegelt.

Gibt es Eurer Einschätzung nach Personen in diesen Szenen, die in ihrer Meinung noch nicht sehr verfestigt sind und deshalb noch umzustimmen wären?

Wenn es diese Personen an den Demonstrationen gibt, so sind es wahrscheinlich Menschen, die – zum Teil ja auch sehr berechtigte – Kritik an der staatlichen Pandemiebewältigung haben. Wer einmal an so einer Demonstration teilgenommen hat, sollte jedoch schnell einsehen, dass die Massnahmen ein Aufhänger sind für weit absurdere Ideologien. Die nationalistische, völkisch-esoterische und verschwörungstheoretische Prägung der Demos kann nicht übersehen werden.

Einige der geäusserten Kritiken der Massnahmengegner:innen richten sich zum Beispiel an die Big Pharma. Die Pharmaindustrie, die logischerweise von der Krise profitiert hat, solle sie – so der Verschwörungsglaube – deshalb geplant haben. Sind gewisse Ansichten der Anti-Massnahmenbewegung lediglich gescheiterte Kapitalismuskritik?

Ein sehr effektiver und einfacher Weg, Kapitalismuskritik von Verschwörungserzählungen zu trennen, ist die folgende Frage: Richtet sich die Kritik gegen die vermeintlich bösen Motivationen von einzelnen Menschen oder Gruppen? Ist die Antwort ja, handelt es sich nicht um eine Systemkritik. Nicht „böse Menschen“ erklären den schlechten Zustand der Welt, sondern das unzureichende System, der Kapitalismus also. Dieser Unterschied ist grundlegend. Deswegen sind Verschwörungserzählungen auch nicht der Anfang einer eigentlich fundierten Kapitalismuskritik.

Rein hypothetische Frage: Wie würde eine post-kapitalistische Gesellschaft auf eine Pandemie reagieren?

In einer post-kapitalistischen Welt gäbe es zwar immer noch Viren und Pandemien, diese würden dann aber keine gesamtgesellschaftlichen Krisen auslösen, da es zum Beispiel keine Impfpatente mehr und dafür ein global starkes Gesundheitswesen geben würde.

Was haben wir ‚nach‘ der Corona-Krise zu erwarten?

Weder die neu gebildeten noch die alten Zusammenschlüsse der Rechten und Verschwörungsgläubigen werden mit dem Abflauen der Pandemie verschwinden. Praktisch jede reaktionäre Randgruppe wurde durch diese Krise gestärkt, so zum Beispiel die Kameradschaft Heimattreu oder die Identitäre Bewegung Schweiz. Durch das weltweite Erstarken von verschwörungstheoretischen Narrativen sind tatsächlich faschistische Tendenzen in der Mitte der Gesellschaft beobachtbar.

Auch falls es gelingen würde, diese Entwicklung aufzuhalten, werden wir uns in Zukunft mit einem nach rechts politisierten Kleinbürgertum auseinandersetzen müssen, welches auf jede Krise mit klaren, aber falschen Feindbildern, Antisemitismus und lautem Geschrei reagiert. Darum müssen wir möglichst viele Menschen über die Gefahr und Funktionsweise von verschwörungstheoretischem Denken aufklären.

Was sind linke Perspektiven für einen Ausweg aus der Krise ohne Verschwörungsmythen?

Einerseits muss klar benannt werden, wie die Bewegung der Massnahmengegner:innen und Verschwörungsmythiker:innen funktioniert und wer von ihr profitiert. So kann eine Gegenbewegung gestärkt werden. Andererseits müssen linke Narrative mehr Platz bekommen. Gerechtigkeit und Solidarität bedeuten konkret: die Aufhebung aller Impfpatente, globale Impfgerechtigkeit, Kollektivierung aller Industrien, die durch die Krise disproportional profitiert haben, freier Informationsaustausch und die Entkopplung der Forschung von ökonomischen Interessen.