Der Amokfahrer von Amriswil wollte wahllos Jagd auf Ausländer machen – er sah sich im Club mit rechtsradikalen Terroristen wie Anders Breivik

Tagblatt. Der Beschuldigte wollte einen Krieg anzetteln, um den Untergang der weissen Rasse zu verhindern. Zwei Mädchen hat er bei seiner Amokfahrt verletzt, eines davon schwer. Das Bezirksgericht Arbon muss nun über die Schuldfähigkeit des 30-Jährigen entscheiden.

Von den Menschen und der realen Welt hatte er sich weitgehend verabschiedet. Seine Tage füllte er aus mit Alkohol und Videospielen. Der Mann, der am 2. Mai vor dem Bezirksgericht Arbon steht, wirkt harmlos, eher klein und jünger als seine 30 Jahre. In Handschellen bringen ihn zwei Polizisten in den Gerichtssaal.

Er hat keine Ausbildung und lebt von der IV. Die Fragen des Vorsitzenden Richters beantwortet er bereitwillig, wenn auch vieles verworren bleibt. Verworren und unfassbar wie sein Hass auf Ausländer, Muslime und die linke Nachkriegsgeneration.

Er sammelte alles, was seinen Hass verstärkte

Er befürchtete den Untergang der weissen Rasse, das wollte er verhindern. Sein Vorbild waren rechtsradikale Terroristen wie der norwegische Massenmörder Anders Breivik. Mit Vorliebe speicherte er Gewaltbilder und Videos von Attentaten ab. Auf den eigenen Amoklauf bereitete er sich ein halbes Jahr akribisch vor.

Tag X ist der 11. September 2020, als sich der Anschlag auf das World Trade Center zum 19. Mal jährt. Mit einem Auto, das er sich kurz zuvor gekauft hatte, wollte er Jagd auf Ausländer machen. Sie wahllos anfahren, möglichst viele verletzen oder töten. Hinter dem Rückspiegel hatte er eine Handykamera befestigt, die alles filmen und ins Internet übertragen sollte.

Wegen ihrer dunklen Hautfarbe wurde die 15-Jährige zur Zielscheibe

Zwei 15-jährige Mädchen hatten das Pech, dass sie zufällig an diesem Freitagnachmittag in Amriswil mit ihren Velos hintereinander fuhren. Eine der beiden hatte eine dunkle Hautfarbe, das machte sie für den Beschuldigten zur Zielscheibe. Absichtlich rammte er mit seinem Auto die beiden Velos.

Die hintere Fahrerin stürzte in die Wiese, die vordere wurde über Motorhaube und Autodach auf die Strasse geschleudert. Sie musste ins Spital geflogen werden, erlitt ein leichtes Schädel-Hirn-Trauma und Rückenverletzungen. Sie leide noch heute körperlich und psychisch unter dem Erlebten, sagt ihr Anwalt. Beide Mädchen sind an der Verhandlung anwesend, ihre Anwälte fordern finanzielle Genugtuung.

Er zwang die Spitex-Mitarbeiterin zum Aussteigen

Kurz nachdem der Beschuldigte die Mädchen umgefahren hatte, war die Amokfahrt zu Ende. Erst prallte er mit seinem Auto in einen parkierten Wagen, dann gegen eine Gartenmauer. Mit seinem eigenen Auto konnte er danach nicht mehr fahren. Doch der Wahnsinn ging weiter. Kurzerhand kidnappte er das Auto einer Spitex-Mitarbeiterin, die wegen des Verkehrs anhalten musste.

Aus der Amokfahrt wurde eine wilde Irrfahrt durch beide Appenzell, die Stadt St.Gallen und Rorschach. Er hatte keine Kamera mehr und mittlerweile war auch die Polizei hinter ihm her. In Heerbrugg stoppte ihn die Kantonspolizei St.Gallen. Nach dem Zusammenstoss habe er den Mädchen gegenüber Schuldgefühle gehabt, sagt der Mann vor Gericht.

Doch das nimmt ihm der Staatsanwalt nicht ab. Der Beschuldigte habe seine Todesfahrt nur beendet, weil das Auto kaputt gewesen sei. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn er wie geplant weiter zum Bahnhof Amriswil hätte fahren können. Der Staatsanwalt sagt:

«In der Schweiz hat es bisher keine vergleichbare rechtsextremistische Tat gegeben.»

Was der Beschuldigte getan habe, sei mehrfacher versuchter eventualvorsätzlicher Mord. Der Staatsanwalt beantragt eine Freiheitsstrafe von 13 Jahren, sie soll aufgeschoben werden zugunsten einer stationären therapeutischen Massnahme.

Der Beschuldigte wollte auch den Stiefvater töten

Seit frühester Jugend ist der Beschuldigte regelmässig in der Psychiatrie, wiederholt war er in Littenheid. Auch vor dem Amoklauf war er bei Psychologen und Ärzten in Behandlung. Seine Kindheit war schwer, der Vater war Alkoholiker und hat sich das Leben genommen. Mit 15 Jahren hat ihn der Stiefvater aus der Wohnung geworfen. Das hat seinen Hass so geschürt, dass er den Stiefvater nach der Amokfahrt töten wollte.

Mit ausdruckslosem Gesicht verfolgt der Beschuldigte die Verhandlung. Die Psychiater haben bei ihm eine paranoide Schizophrenie festgestellt. Die Welt habe er für eine Simulation gehalten, erzählt er dem Gericht. Sich selbst sah er darin als ausgewählten Spieler, der eine Mission zu erfüllen habe.

Das Gericht muss jetzt beurteilen, wie schuldfähig der Mann zur Zeit der Tat überhaupt war. «Schuldunfähig», behauptet sein Verteidiger und beantragt einen Freispruch. Dennoch soll sein Mandant eine stationäre psychotherapeutische Massnahme absolvieren.

Die Psychiaterin stellt zwei Hypothesen auf

Selbst die Psychiaterin, die den Mann beurteilt hat, legt sich nicht fest. Sie hat in ihrem Gutachten zwei Hypothesen aufgestellt. Hypothese 1: Der Beschuldigte habe die Tat aus einer Wahnvorstellung heraus begangen, dann sei er nicht schuldfähig. Hypothese 2: Der Täter leide zwar an Schizophrenie, die Tat sei aber nicht im Wahn erfolgt. In diesem Fall wäre er zu Einsicht und Schuld fähig.

Die zweite These vertritt auch der Staatsanwalt. Der Fremdenhass des Beschuldigten, gespickt mit Verschwörungstheorien und der Frust über sein Leben, hätten den Anstoss zur Tat gegeben. Die Schuldfähigkeit sei lediglich eingeschränkt.

Das Gericht wird das Urteil in den nächsten Tagen schriftlich bekannt geben.