«Dann eskaliert das Ganze»

Newsnet: Nach der Zürcher Krawallnacht fordert SVP-Nationalrat Hans Fehr eine Räumung besetzter Häuser. Szenekenner Heinz Nigg fände das kreuzfalsch.

Wie haben Sie von den Krawallen am Freitagabend erfahren? Kennen Sie Leute, die dabei waren? Ich kenne niemand, der persönlich dabei war, wurde aber über Facebook rasch darauf aufmerksam. Ich bin am Montag mit dem Velo durch die Europaallee geradelt und war schockiert, wie systematisch hier vorgegangen wurde… kein Fenster wurde ausgelassen.

Die Polizei wurde offenbar komplett überrascht. Sehen Sie einen konkreten Anlass für die Ausschreitungen? Ich dachte gleich an Google. Die Firma hatte ja am selben Tag bekanntgegeben, dass sie in die Europaallee ziehen möchte. Sie ist als transnationales Unternehmen ein erklärtes Feindbild der Reclaim-the-Streets-Bewegung. Das dürfte der Demo beträchtlichen Zulauf gebracht haben.

Was halten Sie von der Annahme, dass Krawallmacher die Bewegung für ihre Zwecke missbraucht haben? Das glaube ich nicht. Ich vermute vielmehr, dass sich die Bewegung, die ja lange für ihre friedlichen und lustigen Mittel bekannt war, selbst radikalisiert hat. Ähnliche Entwicklungen erlebte ich während der 80er in der autonomen Szene. Plötzlich kommen die Vorwürfe: «Ihr Waschlappen, mit Blümchen und Liedchen gibts keine Revolution. Lasst uns was Heftiges tun!» Die Gemässigten haben dann meistens Mühe, sich gegen solchen Furor zu behaupten. Und dann kommen noch jene dazu, die irgendeine Veranstaltung missbrauchen, um sich abzureagieren.

Wen meinen Sie? Es kann durchaus vorkommen, dass an einer Demo wie am Freitagabend rechtsextreme Hooligans Seite an Seite mit frustrierten Secondos und linksrevolutionären Autonomen Steine werfen. Solche Gewaltgruppen sind heterogener, als die meisten denken.

Was ist mit den sogenannten Gewalttouristen, die von Krawall zu Krawall ziehen? Die gibt es, werden aber meist überschätzt und von den Gegnern der Autonomen grösser gemacht, als sie eigentlich sind. Hinter der Organisation der Krawalle stehen fast immer Einheimische.

Warum distanzieren sich die Anführer von Reclaim the Streets nicht von der Gewalt? Diese Forderung hört man ja immer wieder. Doch eine solche Bewegung ist nach allen Seiten offen, jeder kann dazustossen und mitlaufen. Es ist falsch, zu glauben, ein Anführer könne sie als Organisation kontrollieren wie einen Club oder eine Partei.

Was halten Sie von der Forderung von SVP-Nationalrat Hans Fehr, dass jedes besetzte Haus innert 24 Stunden geräumt werden müsse? Fehr möchte jetzt natürlich den Repressionsapparat in Gang setzen. Aber das bringt nichts, dann eskaliert das Ganze.

Bei der Ladenbesitzerin, der zum wiederholten Mal Scheiben eingeworfen wurden, könnte Fehrs Ansinnen durchaus auf offene Ohren stossen. Sicher, die Frau tut mir ja auch leid. Trotzdem muss man das nüchtern sehen: Mit Polizeigewalt und kurzfristigen harten Eingriffen wird man das Problem nicht lösen können. Labitzke war ein Sündenfall, die Schliessung des Areals war ein ganz schlechtes Zeichen. Hier wurde der alte Kompromiss aufgekündigt, den das bürgerliche Zürich in der Ägide Neukomm in den 90ern mit dem sozialdemokratischen Zürich eingegangen ist: freistehende Häuser können von Kreativen genutzt werden, bis der Besitzer mit einer Baubewilligung eine Nutzung geltend macht. Zürich hat Freiräume heute nötiger denn je.

Ist das nicht blauäuig? Die Militanten vom Freitag lehnen unseren Staat ja offensichtlich grundsätzlich ab. Warum sollten sie sich mit Jugendtreffs und ein paar besetzten Hallen mehr zufrieden geben? Die Hitzköpfe, die am Freitag die Randale gestartet haben, finden heute in Zürich kaum noch Orte, an denen sie sich reiben und ausdiskutieren können. Es gibt ja eigentlich nur noch das Koch-Areal. Wissen Sie, auch Militante können bis zu einem gewissen Grad eingebunden werden. Wenn sie jedoch allein sind – und das sind sie heute eher als noch vor zehn Jahren –, dann radikalisieren sie sich.

Sollte eigentlich nicht die nach den Opernhauskrawallen entstandene Rote Fabrik ein Forum für solche «Reibungen» bieten? Die Fabrik ist wichtig, aber ihr allein kann diese Verantwortung nicht aufgebürdet werden. Das ist genau dieses simple mechanische Denken: alle kritischen, unkonventionellen, auch gefährlichen Geister in die Fabrik stecken und gut ist.

Was sind Ihre Lösungsvorschläge? Die Krawalle sollen nun exakt aufgearbeitet werden, dann sollen alle Betroffenen an einen runden Tisch. Die Berner haben das nach den Tanz-dich-frei-Krawallen letztes Jahr gut vorgemacht. Ausserdem sollte man die kritischen Stimmen ernster nehmen, sich seriös mit den Veranstaltungen auseinandersetzen, die in den verbliebenen autonomen Zonen stattfinden. Und nicht bloss hinschauen, wenn es wieder einen Krawall oder eine Räumung gibt. Dann würde man nämlich merken, dass es nicht nur Opern und hippe Galerien in Zürich gibt, sondern junge, mitunter durchaus sperrige Kreative. Sie sind es ja letztlich auch, die unsere Stadt voranbringen.