Berner Burger im Gegenwind

BernerZeitung

Die Historikerin Katrin Rieder erschüttert mit einem 700-Seiten-Wälzer das schöne Bild von der freigebigen Burgergemeinde Bern. Sie verschweige die Wurzeln ihrer Finanzmacht ? und überdies auch Nazifreunde in ihren Reihen.

Vorbei die Zeiten, als der Burgergemeinde Bern der dubiose Ruf nachhing, eine verschwiegene Geheimgesellschaft zu sein. Nicht zuletzt die Burger selber haben mit einer Charmeoffensive dazu beigetragen, dass Bern die Burgergemeinde gern hinnimmt. Sie tut ja Gutes. Sie hat den Bärenpark mit einem Startbeitrag angeschoben, sie hilft, den Botanischen Garten zu retten. Was wäre Bern ohne Burgergemeinde.

Korrigiertes Burgerimage

Das schöne Bild der Wohltäterin wird nun arg angekratzt. Von der Berner Historikerin Katrin Rieder, 39, die gestern an der Vernissage im Berner Progr ? an der auch Burgerratspräsident Franz von Graffenried zugegen war ? ihr brisantes Buch «Netzwerke des Konservatismus» vorstellte.

Der alarmrote Wälzer ? es ist Rieders Dissertation ? beschreibt den Frieden zwischen der Stadt- und Burgergemeinde Bern als Stillhalteabkommen, das Image der Wohltäterin demontiert er als Beschönigung. Die Burgergemeinde wird als «Bollwerk» analysiert, in dem bis heute ein reaktionäres Machtbewusstsein von Patriziern überlebe ? und ein auf Kosten der Öffentlichkeit erworbener Reichtum verwaltet werde. Das Werk gipfelt in der Enthüllung, dass Burger, die später hohe Burgerämter innehatten, in den 1930er-Jahren führende Rollen bei den nazifreundlichen Schweizer Frontisten spielten (siehe unten). Starker Tobak.

Rieders Buch ist die erste umfassende Untersuchung über Berns Burgergemeinde im 19. und 20. Jahrhundert. «Weil die Burger die Wurzeln ihrer Macht und ihres Reichtums ausblenden und ihre Geschichte nicht selber untersuchen, tue ich das jetzt halt als Aussenstehende. Ich wollte verstehen, wie das funktionieren kann», sagt Katrin Rieder im Gespräch. Sie verstösst mit ihrem Buch gegen den eher nostalgischen, burgerfreundlichen Konsens in der Berner Geschichtsschreibung. So ist es nicht weiter erstaunlich, dass die Burger Rieders Buch die finanzielle Unterstützung versagten ? und dass Rieder keinen Job in den burgerlich geprägten historischen Berner Institutionen innehat. Sie arbeitet bei der Kulturstiftung Pro Helvetia in Zürich.

Insel aus versunkener Zeit

Glühende Alt-Patrizier könnten Rieders Buch als antiburgerliches Pamphlet abtun. Es leistet mehr. Zweifellos: Rieder stellt die Existenzfrage: Braucht es die Burgergemeinde überhaupt? Die Autorin antwortet zwar zwischen den Zeilen mit Nein, sie durchleuchtet aber den Gegenstand ihrer Kritik gleichzeitig seriös und minuziös. Sie erklärt den Bernern, was die Institution Burgergemeinde, eine der grössten Schweizer Waldbesitzerinnen und Berner Baulandbesitzerinnen, überhaupt ist. Sie fragt, wie sie ihr Image be- und ihre Gewinne erwirtschaftet.

Nach dem Untergang Alt-Berns 1798 existieren im Kanton Bern nebeneinander die neu formierten Einwohnergemeinden und die Heimat- oder Burgergemeinden, in denen alte Besitzstände bewahrt werden. In der Burgergemeinde der Stadt Bern sammelten sich die gestürzten patrizischen Machthaber des alten Stadtstaates und machten sie in Rieders Analyse zu einem Refugium, in dem sie sich ihre verbleibende Macht, ihr Standesbewusstsein und ihren Besitz zu erhalten versuchten. Wie auf einer Insel aus alten Zeiten. Und das mitten in Bern, seit 1848 Hauptstadt eines fortschrittlich demokratischen Staates.

Ungerechter Landdeal?

Im Güterausscheidungsvertrag zwischen Einwohner- und Burgergemeinde Bern erhält die Stadt 1854 die Gebäude, die Kosten verursachen. Die Burgergemeinde aber behält unüberbautes Land, das 40 Jahre später, beim Wachstum der Stadt, zu lukrativem Bauland wird, das bis heute Baurechtszinsen abwirft. Der historische Deal, der schon damals von liberalen Politikern als ungerecht kritisiert wurde, ist der Grundstein des heutigen Burgerreichtums. In der Volksabstimmung kam er auch deshalb durch, weil damals nur Männer ab einem bestimmten Einkommen stimmberechtigt waren. Und weil auch in der Einwohnergemeinde Bern Burger wichtige Posten besetzten. Das ist für Rieder ein bis heute wirksames Muster: Die Burger üben mit ihrer Finanzkraft in der Stadt indirekt Macht aus.

Rieders Fazit: «Die Burger sicherten ihre alte Macht und ihr Überleben mit moderner ökonomischer Gewinnpolitik.» Diese burgerliche Wendigkeit belegt Rieder auch später: In der Debatte um das Berner Villettequartier in den 1980er-Jahren etwa habe die Burgergemeinde, der in der Altstadt jeder Stein heilig sei, ihr Ideal verraten, indem sie denkmalgeschützte Villen dem Abriss preisgab, um auf dem Boden eine Rendite zu erwirtschaften.

Grosszügigkeit als Taktik

Anders als heute war die Existenz der Burgergemeinde im 19.Jahrhundert umstritten. In der Abstimmung über die Kantonsverfassung von 1885 entging die Burgergemeinde nur knapp ihrem Ende. In der Folge strukturierte sie sich neu, öffnete sich für Neumitglieder und verpflichtete sich auf eine soziale, gemeinnützige Linie. «Bestandessicherung durch Grosszügigkeit», kommentiert Rieder das Image, mit dem die Burger bis heute die Wogen glätten.

Diese Grosszügigkeit ist doch gut für die Stadt. «Sie ist aber auch ein kalkuliertes Konzept zur Verschleierung eines Machtanspruchs», findet Rieder. Überschätzt sie diese Macht? «Die Burgergemeinde bleibt in Bern ein Machtfaktor, das zeigt ihre ungebrochene Anziehungskraft. Sie verspricht sozialen Status. Neben Bundesbern ist das Burgerbern das andere Berner Netzwerk für den sozialen Aufstieg.»

Stefan von Bergen

Katrin Rieder: Netzwerke des Konservatismus ? Berner Burgergemeinde und Patriziat im 19. und 20.Jahrhundert, Chronos-Verlag, 736 Seiten, Fr. 78.?.

Burgerliche Nazifreunde

Katrin Rieder enthüllt burgerliche Frontistenkarrieren. Ohne gleich die ganze Burgergemeinde unter Naziverdacht zu stellen.

Um ihre Existenz in einem bürgerlich-demokratischen Bern besser zu legitimieren, machte die Burgergemeinde Bern Ende 19.Jahrhundert Konzessionen: Sie öffnete sich und engagierte sich sozialpolitisch. Das hinderte eine Reihe von Burgern nicht, unter dem Eindruck des aufkommenden Faschismus aristokratischen Eliteträumen nachzuhängen. Nach Katrin Rieders brisanten Archivrecherchen gab es gar ein ganzes Netzwerk verwandter und verschwägerter Burger aus Patrizierfamilien, die sich in den 1930er-Jahren bei den nazifreundlichen Schweizer Frontisten engagierten.

Gauleiter Thormann

Eine der auffälligsten Figuren dieses Netzwerks ist der Architekt Georges Thormann-Girard (1912?1999). Als junger Mann gehört er der Nationalen Front an, verfasst für sie rechtsnationale Aufrufe und fällt laut den Akten auch der Berner Polizei auf. Kein Wunder: Bis 1937 ? länger als andere, die viel früher aussteigen ? wirkt er in der Nationalen Front als «Gauleiter Kanton Bern».

Für seine Frontistenkarriere ist Thormann selber verantwortlich. Dass er aber nach dem Krieg eine steile, ungehinderte Burgerkarriere machte, das stellt auch der Burgergemeinde als Institution kein gutes Zeugnis aus. 1968 wird Thormann mit über 500 Stimmen und ohne Gegenstimme zum Burgerratspräsidenten gewählt. Niemand fragt nach seinem politischen Vorleben.

Differenzierter Vorwurf

Rieder entgeht der Gefahr, ihr Buch mit dem verkaufsfördernden Nazivorwurf zu promoten: Sie wirft nicht der ganzen Burgergemeinde rechtsextreme Tendenzen vor. Für sie passt Thormanns Karriere aber «zu einem Konservatismus mit reaktionären Komponenten, wie er von vielen Burgern patrizischer Herkunft gepflegt wurde».

svb

Burgergemeinde wird aktiv

Mit einem «Quellenforschungsbericht» will die Burgergemeinde ihre Nähe zu den Frontisten in den 30er-Jahren untersuchen.

Bevor die Burgergemeinde Bern in Katrin Rieders brisantes Buch blicken konnte, reagiert sie darauf und arbeitet ihre Vergangenheit auf. «Wir haben einen Quellenforschungsbericht in Auftrag gegeben», sagt Burgerratspräsident Franz von Graffenried auf Anfrage. Weil sich kein externer Forscher für die Aufgabe finden liess, sei nun ein Historiker der Burgerbibliothek für die Aufgabe freigestellt. Er soll Quellen und Fakten der Burgergemeinde ? nicht aber einzelner Burgerfamilien ? zusammentragen, die zur brisanten Enthüllung in Rieders Buch Auskunft geben, dass Exponenten der Burger, die später zum Teil hohe Burgerämter innehatten, in den 1930er-Jahren bei den nazifreundlichen Schweizer Frontisten mitwirkten.

Er sei «erstaunt und überrascht», dass Burger ? auch aus seiner direkten Verwandtschaft ? aktive Frontisten waren, sagt von Graffenried. Man habe in der Burgergemeinde davon nicht gewusst ? oder nicht wissen wollen. Die Quellenstudie soll klären, ob sich auch die Burgergemeinde als Ganzes ? etwa als sie eine Frontisten-Feier des Hitler-Geburtstags im Berner Casino tolerierte ? rechtsradikal verstrickt war. Allzu hohe Erwartungen dämpft von Graffenried: Das knappe und zerstreute Quellenmaterial lasse vielleicht wenig Schlüsse zu. «In burgerlichen Dokumenten der Zeit, die ich kenne, kommt der Weltkrieg nicht vor.» Würde sich die Burgergemeinde für erhärtete Fehler entschuldigen? «Nein, ich kann mich nur für etwas entschuldigen, was ich persönlich zu verantworten habe.»