Antisemitismus in der Schweiz: Ersieht, wenninCorona-ChatsgegenJudengehetztwird

zuonline.ch In Chats auf Telegram finden Antisemiten ein grosses Publikum. Ein Mann dokumentiert ihr Verhalten seit Beginn der Pandemie.

Hier sind sich reale und virtuelle Welt ganz nah. «Kein Sex mit Geimpften» steht auf einem Sticker, der neben dem Eingang zu einem Bürogebäude in Zürich befestigt wurde. Drinnen erwartet uns der Mann, der die sprachlichen Entgleisungen der Schweizer Corona-Leugnerinnen und Impfgegner in den sozialen Netzwerken so genau kennt wie wohl niemand sonst im Land. R., der anonym bleiben möchte, beobachtet ihre Chats auf dem Messengerdienst Telegram. Seit 20 Monaten liest er mit, jeden Tag Hunderte Nachrichten.

Sein Auftraggeber ist der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG). Nachdem in der ersten Phase der Pandemie Medienberichte über antisemitische Parolen auf Telegram erschienen sind, wollte der SIG mehr dazu wissen. Die Bilanz für 2021: 451 antisemitische Vorfälle hat R. in den Chats entdeckt – deutlich mehr als im Vorjahr und doch nur die Spitze des Eisbergs. Diese Chats «ziehen Personen mit antisemitischen Haltungen an», schreibt der SIG in seinem neuen Antisemitismusbericht, der am Dienstag erschienen ist.

An diesem Nachmittag liegen zwei Handys vor R. auf dem Tisch. Abonniert hat er ein Dutzend Chats auf dem abgenutzten Dienstgerät. Er will keine Risiken für sich und seine Angehörigen eingehen. Angemeldet ist er bei Telegram mit einem Allerweltsnamen. So geht er unter in der Masse der Chat-Abonnenten. Er liest mit, schreibt aber nie selbst. «Auch wenn es mich manchmal juckt, etwas richtigzustellen», sagt R.

Er scrollt für uns durch einen der Chats, in dem er besonders oft antisemitische Inhalte findet. Knapp 2000 Abonnenten sind dabei. Echte Namen inklusive Porträtfoto wechseln sich ab mit anonymen Profilen. Man liest Aufrufe zu Demonstrationen, Wutreden gegen Politiker, Verschwörungstheorien. Und in regelmässigen Abständen tauchen Aussagen auf wie diese: «Es sind die Juden, die Krieg gegen alle freien Völker führen.»

Solche offen antisemitischen Äusserungen lösten manchmal Widerspruch bei anderen Abonnentinnen und Abonnenten aus, sagt R. Die Verwalter der Chats griffen jedoch so gut wie nie ein, obwohl sie Mitteilungen löschen und Abonnenten sperren könnten. Mit dem Argument der Meinungsäusserungsfreiheit werde fast alles zugelassen. Ausser jemand äussere sich positiv über die Corona-Impfung oder die Massnahmen. «Diese Abonnenten fliegen jeweils schnell aus dem Chat», sagt R.

Er hat selbst jüdische Wurzeln. Die Hetze und Gewaltaufrufe treffen ihn persönlich. Dennoch schaffe er es, diesen offen zur Schau gestellten Antisemitismus nicht zu nahe an sich heranzulassen. «Anders ist es nicht möglich, die Chats über einen so langen Zeitraum zu beobachten.»

Beobachter wie ihn brauche es aber zwingend, sagt R. Ein Computerprogramm könne den Menschen noch nicht ersetzen – insbesondere in Schweizer Chats, wo viel in Dialekt geschrieben werde. Antisemiten würden zudem ihre Botschaften oft tarnen. Statt von Juden ist dann von den Rothschilds die Rede, oder es wird ein angeblich hebräisches Wort erfunden, das sich rückwärts wie Covid liest.

Beim Zählen antisemitischer Vorfälle in den Chats hält sich R. an die Definition der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken (IHRA). Die wiederholten Vergleiche von Corona-Massnahmen mit Methoden des Naziregimes und dessen Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung fliessen deshalb nicht in die Statistik der Vorfälle ein. Ein Beispiel dafür sind Bilder von Massnahmengegnern mit dem gelben Stern. Die IHRA-Definition wertet dies gemäss dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund nicht per se als antisemitisch, sondern nur dann, wenn gleichzeitig ausdrücklich der Holocaust verharmlost wird.

Bei den registrierten Vorfällen werden oftmals Stereotypen und Theorien reproduziert, die schon seit Jahrhunderten existieren. Er sei davon nicht überrascht, sagt R. «Ein Teil der Schweizer Bevölkerung hat antisemitische Einstellungen oder widerspricht antisemitischen Stereotypen zumindest nicht.» Erhebungen des Bundesamts für Statistik zeigen, dass rund 10 Prozent der Bevölkerung Jüdinnen und Juden gegenüber feindselig eingestellt sind, rund 20 Prozent stimmen antisemitischen Stereotypen zu.

Für R. ist deshalb klar, dass nicht einfach einige Rechtsextreme die antisemitischen Inhalte in den Telegram-Chats verbreiten, sondern auch viele Menschen aus der Mitte der Gesellschaft. Die Pandemie und die Anonymität der Telegram-Chats – diese Kombination mache Haltungen sichtbar, die schon immer da waren.