Antisemiten als Trittbrettfahrer

St. Galler Tagblatt: Unter dem Deckmantel der Solidarität mit den Palästinensern macht sich rassistischer Hass breit. Er kritisiert nicht die israelische Militäroffensive, er diffamiert und bedroht Menschen, weil sie Juden sind.

Was braucht es, dass das Böse sich durchsetzen kann? Das Schweigen seiner Gegner.

Die israelische Armeeoffensive im Gaza-Streifen ist dieser Tage Stoff hitziger Debatten. Sie finden in den Medien, auf der internationalen Bühne der Diplomatie und in Parlamenten, aber auch auf der Strasse statt. In Berlin, Paris, Brüssel, London, Washington und in Zürich. Da sind die «Freunde Israels» mit dem einzigen, aber kaum widerlegbaren Argument, dass Israel das Recht habe, sich gegen Terrorangriffe der islamistischen Hamas zu verteidigen. Und da sind die Kritiker der israelischen Regierung, die ebenso zu Recht mit den Opferzahlen auf die kaum gewahrte Verhältnismässigkeit der israelischen Militäroffensive verweisen.

Als hätte es keinen Holocaust gegeben

Aber da sind auch ganz andere Stimmen. Solche, die sich hinter der Solidarität mit dem palästinensischen Volk verstecken und offen einen Antisemitismus propagieren, der hinter der Nazipropaganda eines Joseph Goebbels oder dem Hetzblatt «Der Stürmer» des Nazi-Ideologen Julius Streicher in nichts nachsteht. Als hätte es den Holocaust, den industriellen Massenmord an sechs Millionen europäischen Juden, nie gegeben: «Jude, Jude, feiges Schwein», tönt es etwa in Berlin aus tausend Kehlen bestenfalls geschichtsvergessener junger Deutscher. Die Einpeitscher aus Nazigruppen aber sind nicht geschichtsvergessen, sie meinen, was sie schreien.

In Paris bleibt es derweil nicht bei verbaler antisemitischer Gewalt. Die gibt es auch: «Tod den Juden» ist ein Slogan bei Demonstrationen. Da werden aber auch Geschäfte geplündert oder angezündet, nur weil sie koscheres Essen verkaufen.

Die Liste der antisemitischen Parolen und offenen Drohungen gegen Juden aus den vergangenen Tagen liesse sich aus ganz Europa beliebig fortsetzen. Was kann schlimmer sein?

Recht, das Unrecht zulässt

Oft ist es die offizielle Reaktion der Behörden. Etwa gegen den Ruf «Jude, Jude, feiges Schwein» schritt die in Hundertschaften aufgebotene Polizei an der Berliner Demonstration nicht ein. Der Grund: Die widerliche Parole war zuvor von der Staatsanwaltschaft zwar als Beleidigung eingestuft worden, aber nicht als Volksverhetzung. Gegen Beleidigungen darf die deutsche Polizei nur einschreiten, wenn eine Anzeige vorliegt. Da ist es: das Schweigen jener, die sicher nicht als Antisemiten gelten wollen. Und es ist nicht nur in Deutschland unerträglich still.

Verbale Distanz genügt nicht

Und in Zürich ist die Polizei froh, von einer friedlichen Kundgebung auf der Gemüsebrücke berichten zu können. Da «begnügten» sich offen antisemitische Extremisten damit, Juden zuvor auf Facebook zu beschimpfen und zu bedrohen. Ein Eintrag hatte vorgeschlagen, «die Demonstration ins Zürcher Judenviertel zu verlegen, wo man den Scheiss-Juden die Fresse polieren» oder «jeden Zionisten steinigen» solle.

Aber wie gesagt, die Kundgebung war friedlich, wenn man denn die Absenz realer Gewalt schon als friedlich bezeichnen will. Zur Kundgebung hatte aber nicht nur die Gesellschaft Schweiz-Palästina ausgerufen, sondern auch der salafistische Islamische Zentralrat.

Linker Irrtum

Und so stand letztlich Nationalrat Daniel Vischer (Grüne) mit den milchbärtigen Salafisten Seite an Seite. Ihm genügte ein nachträgliches Statement, er habe mit den antisemitischen und islamistischen Hassparolen nichts zu tun. Doch das genügt eben nicht.

Den Antisemiten in Europa, in den USA und in den arabischen Ländern geht es nicht um Gaza oder Solidarität mit den Palästinensern. Ihnen passt die autoritäre Ideologie der Hamas. Für sie sind die Islamisten stolze Kämpfer für eine richtige Sache, die wissen, wo Frauen, Schwule und Juden hingehören. Was aber treibt Linke, die so gerne über eine emanzipierte Gesellschaft reden, an die Seite der Ewiggestrigen? Es riecht nach einem Verhalten, das dieselben Kreise bürgerlichen Regierungen und Grossmächten wie den USA so gerne vorhalten: «Der Feind meines Feindes ist mein Freund.»

Jüdische Kritiker unterstützen

Doch Israel ist kein monolithischer Block. Dort kritisieren Juden als israelische Patrioten seit dem Sechstagekrieg von 1967 das Verhältnis zu den Palästinensern und die Besatzungs- und Siedlungspolitik ihres Staates. Diese jüdischen Stimmen gälte es doch zu unterstützen, statt hinzunehmen, dass Nazis schon wieder «den ewigen Juden» diffamieren. Das Motto gibt Anetta Kahane von der antirassistischen deutschen Amadeu-Antonio-Stiftung vor: «Ich möchte lieber gegen Unrecht in Israel kämpfen müssen, als in einer Hamas-Gesellschaft leben und kein Recht auf Kritik zu haben.»